Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
I
Philip S. kommt im Spätsommer 1967 nach Berlin. Er trägt einen Anzug, der nicht zu seinem Alter passt, und einen Vornamen, der nicht in seinem Ausweis steht. Mit dem schmalen Bart, der seinem ländlichen Gesicht eine altmodische Strenge verleiht, ähnelt er dem Basler Bonifacius Amerbach, wie ihn der jüngere Hans Holbein vor etwa fünfhundert Jahren gemalt hat. Er ist zwanzig, und es scheint, als hätte er sein Alter bereits mit weitausholenden Schritten durchquert. Aber er bewegt sich nicht mit fliegenden Rockschößen, eher bedächtig und die Augenblicke dehnend, als müsse er sie ausschöpfen bis auf den Grund. Alles, was er tut, tut er langsam. Und doch treibt ihn eine verborgene Eile an, der sein langer Körper nur zögernd folgen will.
Als ich ihn das erste Mal sehe, lehnt er an einer Wand und wartet. Er wartet, dass ich mein Gespräch an dem alten schwarzen Telefon im Flur der Berliner Filmakademie beende. Ich bin siebenundzwanzig, habe ein Kind mit einem Mann, der mich verlassen hat, und lebe im Stadtteil Kreuzberg in einer Wohnung, die früher ein Bäckerladen war. Noch immer gehe ich in die Filmakademie, wenn ich kein Kleingeld für die Telefonzelle habe. Es zieht mich an diesen Ort, obwohl ich weiß, dass ich den Vater meines Kindes dort treffen könnte. Ich schaue in die offenen Schneideräume, wo Spulen mit Filmmaterial leise surrend hin- undherlaufen. Manchmal will es der Zufall, dass auf dem Bildschirm am Schneidetisch ein Gegenstand aus meiner Wohnung auftaucht, eine Lampe, die sich Studenten für eine Szene bei mir ausgeliehen haben, ein Tisch, an dem ein Schauspieler sitzt, oder mein aus der Mode gekommener Pelzmantel, den jetzt irgendeine Frau trägt, als sie aus dem Auto steigt. Oder ich sehe an einem anderen Schneidetisch Bilder eines Lumpensammlers, der seinen Karren durch die Straßen Kreuzbergs zieht. Er kommt auch an dem Bäckerladen vorbei, in dem ich wohne. Hier lädt er etwas auf den Karren, woanders lädt er es wieder ab: einen gebrauchten Kinderwagen mit verchromten Schutzblechen oder ein altes Fahrrad. Hustend schleppt er seinen Karren abends in das Wohnheim für Obdachlose am Schlesischen Tor. In den Fluren gehe ich an Fotowänden vorbei, auf denen auch der Vater meines Kindes zu sehen ist, der nicht mehr mein Mann ist. Ich trinke einen Kaffee bei der Sekretärin, die sich erinnert, wie ich das erste Mal herkam, mit einem Baby auf dem Arm.
Der Vater meines Kindes gehörte zu den ersten Studenten an der Akademie. Während unserer kurzen Ehe in dem ehemaligen Bäckerladen hat er einen einzigen Film gedreht: die letzten Lebensminuten des Sokrates, gespielt von einem Bettler mit langen weißen Haaren, der auf der Potsdamer Straße Zigarettenkippen sammelt und Platons Text mit Berliner Akzent spricht. Der Darsteller des Kriton, seines Schülers, ist ein ostpreußischer Knecht, der nachts in einer Eckkneipe neben dem Kohleofen schläft. Die letzten Minuten des Sokrates spielen sich auf einem Friedhof ab zwischen Lebensbäumen, Grabsteinen und Laub.
Zu Beginn des Jahres 1967, als es in dem Bäckerladen so kalt geworden ist, dass die Eisblumen am Kinderzimmerfenster nicht mehr auftauen, packe ich einen Seesack und steige in den Zug nach Rom. Mein Sohn kriecht auf dem Boden des Abteils herum und wird von den heimkehrenden Italienern mit Süßigkeiten gefüttert. Wir fahren zu meiner Freundin C., die mit ihrer im letzten Frühling geborenen Tochter in einer Wohnung in Trastevere lebt und sich ihren Unterhalt damit verdient, dass sie in einer Bibliothek des Vatikans kirchliche Texte vom Italienischen ins Deutsche überträgt. Hin und wieder gibt sie Arbeiten an mich weiter, ich übersetze sie aus dem Englischen. An den Wochenenden, wenn sie nicht in der Bibliothek sitzen kann, nehmen wir die Rückbank aus dem alten Volkswagen, stellen die beiden Kinderwagen hinein und machen Ausflüge an den Nemisee; manchmal legen wir uns an der Via Appia Antica in die frühe Sonne oder fahren Richtung Norden in die verkehrte Welt des Parks von Bomarzo mit dem schiefen Haus und den in Vulkangestein gehauenen Monstren. An Werktagen bestellt sie sich morgens in der Bar in Trastevere noch schnell einen Espresso und ein Cornetto con panna, bevor sie zu ihrer Arbeit eilt. Ich versorge ihre winzige Tochter bis zum Mittag. Wenn sie zurückkommt, mache ich mich mit meinem Sohn auf den Weg durch die Kirchen, über die Friedhöfe, die Märkte, durch Gärten und Museen. Ich durchquere die Plätze wie nicht enden
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