Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
und Auseinandersetzung, sind oft schon erschlagend durch die Schärfe des Vortrags; der Partner, besonders der neue und ungewohnte, schweigt dann mit verdutztem Lächeln, und Brecht bleibt nichts anderes übrig, als daß er, sich beherrschend, katechisiert, ernsthaft, etwas mechanisch, im Grunde verärgert, denn das ist nun das Gegenteil eines Gesprächs, wie er es erhofft hat, verärgert auch, daß so wenige wirklich durch die Schule des Marxismus gegangen sind, der Hegelschen Dialektik, des historischen Materialismus. Brecht will kein Dozent sein, sieht sich aber in der Lage eines Mannes, der über Dichtung sprechen möchte, und es endet, damit es nichteine Schwafelei wird, mit einem Unterricht in elementarer Grammatik, wofür seine Zeit in der Tat zu kostbar ist; er tut es immerhin, denn eine bloße Schwafelei wäre ihm noch ärgerlicher, Unterricht ist wenigstens Unterricht, wenigstens nützlich für den andern, möglicherweise nützlich. Im Grunde aber, glaube ich, ist Brecht seinerseits froh, wenn er nicht katechisieren muß. Unser Gespräch wird fruchtbar immer dann, wenn ich ihm die Reflexion überlasse, meinerseits nur das Konkrete liefere, das es allerdings an sich hat, immer Widerspruch zu sein. Seine Haltung, und bei Brecht ist es wirklich eine Haltung, die jede Lebensäußerung umfaßt, ist die tägliche Anwendung jener denkerischen Ergebnisse, die unsere gesellschaftliche Umwelt als überholt, in ihrem gewaltsamen Fortdauern als verrucht zeigen, so daß diese Gesellschaft nur als Hindernis, nicht als Maßstab genommen werden kann; Brecht verhält sich zur Zukunft; das wird immer etwas Geharnischtes mit sich bringen, die Gefahr zeitweiliger Erstarrungen, die nichts mehr zulassen. Es ist auch in dieser Hinsicht nicht zufällig, daß Brecht zumal gegenüber den Schauspielern so unermüdlich für das Lockere wirbt, das Entkrampfte; sein eigenes Werk, wo es dichterisch ist, hat es auch immer im höchsten Grade. Das Lockere, das Entkrampfte: eine unerhörte Forderung innerhalb eines Lebens, wie Brecht es führt, eines Lebens in Hinsicht auf eine entworfene Welt, die es in der Zeit noch nirgends gibt, sichtbar nur in seinem Verhalten, das ein gelebter, ein unerbittlicher und durch Jahrzehnte außenseiterischer Mühsal niemals zermürbter Widerspruch ist. Christen verhalten sich zum Jenseits, Brecht zum Diesseits. Das ist einer der Unterschiede zwischen ihm und den Priestern, denen er, wie gerne er sie auch aus seiner anderen Zielsetzung heraus verspottet, nicht so unähnlich ist; die Lehre vom Zweck, der die Mittel heilige, ergibt ähnliche Züge auch bei entgegengesetzten Zwecken. Es gibt auch Jesuiten des Diesseits, und zuweilen ist es gar nicht ihr Wunsch, ihre oberste Pflicht, verstanden zu werden, nicht unter allen Umständen nämlich. »Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit«, eine kleine Schrift von 1934, zur geheimen Verbreitung im Dritten Reich verfaßt, überschreibtihren vierten Absatz: »Das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen die Wahrheit wirksam wird.« Und ihren fünften Absatz: »Die List, die Wahrheit unter vielen zu verbreiten.« Das muß man sich wohl vor Augen halten, insbesondere wenn eine größere, zufällige Gesellschaft versammelt ist. Denn eine friedliche und gerechtere Welt entwerfen und sich vor die Kanonen stellen, um ihr Opfer zu werden, das ist das Verhalten zum Jenseits, das heroische, nicht das Verhalten zum Diesseits, das praktische, das notwendende.
Gestern haben wir zusammen gebadet, das erste Mal, wo ich Brecht in der Natur sehe, in einer Umwelt also, die nicht zu verändern ist und daher wenig Interesse für ihn hat. (»Und die Natur sah ich ohne Geduld, so verging meine Zeit, die auf Erden mir gegeben war.«) Das zu Verändernde ist so groß, daß keine Zeit bleibt, zu loben, was natürlich ist. Wie so manches an Brecht ist auch das bereits eine durchaus gelebte Geste, eine zweite Natur, natürlich, wenn er kein Wort sagt über die Natur. Er bekümmert sich nur, ob wir noch in das aufziehende Gewitter geraten werden oder nicht. Der See ist grün, vom Wind zerwühlt, der Himmel ist violett und schwefelgelb. Brecht, wie immer versehen mit seiner grauen Schirmmütze, stützt sich auf das etwas morsche Geländer, eine Zigarre rauchend; das Morsche, das ist es, was er beachtet: er macht einen Witz über Kapitalismus. Erst wie ich bereits schwimme, geht auch er in den Schopf. Es wetterleuchtet über der Stadt, schräge Regenfahnen hangen vor den fernen
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