Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
oft von verblüffender Dürftigkeit. »Ein Schauspieler«, sagt er zögernd: »das ist wahrscheinlich ein Mensch, der etwas mit besonderem Nachdruck tut, zum Beispiel trinken oder so.« Seine fast bäurischeGeduld, sein Mut, hilflos auf leerem Feld zu stehen, auf Entlehnungen verzichtend, die Kraft, ganz bescheiden zu sein und möglicherweise ohne Ergebnis, dann aber die Intelligenz, Ansätze einer brauchbaren Erkenntnis festzuhalten und durch Widerspruch sich entwickeln zu lassen, und endlich die Männlichkeit, Ergebnisse ernst zu nehmen und danach zu verfahren, unbekümmert um Meinungen, das sind schon wunderbare Lektionen, Exerzitien, die in einer Stunde leicht ein Semester aufwiegen. Die Ergebnisse freilich gehören ihm. Zu sehen, wie er sie gewinnt, ist unser Gewinn. Dann ist es Zeit, den Heimweg anzutreten; Brecht nimmt die Mütze und den Milchtopf, der vor die Haustüre gestellt werden muß. Brecht ist von einer seltenen Art unlaunischer, zur Geste gewordener, dennoch herzlicher Höflichkeit. Wenn ich das Rad nicht habe, begleitet er mich an die Bahn, wartet, bis man eingestiegen ist, winkt mit einer knappen, etwas verstohlenen Gebärde der Hand, ohne die graue Schirmmütze abzunehmen, was stillos wäre; den Leuten ausweichend verläßt er den Bahnsteig mit raschen, nicht großen, eher leichten Schritten, mit Armen, die auffallend wenig pendeln, und stets mit etwas schrägem Kopf, die Schirmmütze in die Stirn gezogen, als möchte er sein Gesicht verstecken, halb verschwörerisch, halb schamhaft. Er wirkt, wenn man ihn so sieht, unscheinbar wie ein Arbeiter, ein Metallarbeiter, doch für einen Arbeiter zu unkräftig, zu grazil, zu wach für einen Bauern, überhaupt zu beweglich für einen Einheimischen; verkrochen und aufmerksam, ein Flüchtling, der schon zahllose Bahnhöfe verlassen hat, zu schüchtern für einen Weltmann, zu erfahren für einen Gelehrten, zu wissend, um nicht ängstlich zu sein, ein Staatenloser, ein Mann mit befristeten Aufenthalten, ein Passant unsrer Zeit, ein Mann namens Brecht, ein Physiker, ein Dichter ohne Weihrauch …
Das Manuskript, das er zum Lesen gegeben hat, nennt sich »Kleines Organon für das Theater«. Brecht will wissen, was man findet. Auch unser Mißverständnis hält er für nützlich; es warnt ihn. Ich habe noch keinen Mann getroffen, der, ohne Pose, so freiist von Prestige. Ein Schauspieler, kein großer, erlaubt sich einen textlichen Vorschlag; er möchte etwas sagen, wo das Buch ihn schweigen läßt. Brecht hört es an, besinnt sich und ist einverstanden: nicht um des Nachgebens willen, sondern weil es richtig ist, was der Mann sagt. Seine Proben haben nie die Luft eines Boudoirs, sondern einer Werkstatt. Auch sonst hat Brecht dieses Ernsthaft-Bereitwillige, das keine Schmeichelei ist und auch keine duldet, das Überpersönlich-Bescheidene eines Weisen, der an jedem lernt, der über seinen Weg geht, nicht von ihm, aber an ihm.
Prag, 23. 8. 1948
Herrlicher Flug durch brodelnde Wolken, Schattenbläue, Sonnengarben, Gebirge von silbernem Schaum; Nebel fetzen vorbei, hin und wieder öffnet sich ein Loch, man sieht das Muster sommerlicher Äcker – Lange Paßkontrolle … Prag, scheint mir, hat ein verändertes Gesicht, lustlos, verarmt. Ich sitze in einer Anlage. Die Freunde sind nicht zu Hause; in den Ferien. Dann suche ich einen fernen Bekannten; der ist emigriert, heißt es, man ist über meine Anfrage ziemlich verlegen; Auskunft aus fast unbewegten und fast geschlossenen Lippen. Die Sonne scheint. Etwas ist gespenstisch; ich könnte aber nicht sagen, woran es liegt.
Zur Schriftstellerei
Was Brecht in seinem Organon schreibt über den ’Verfremdungseffekt‘, nämlich: die theatralische Verfremdung solle den gesellschaftlich beeinflußbaren Vorgängen den Stempel des Vertrauten wegnehmen, der sie heute vor dem Eingriff bewahrt – ferner: der Zuschauer soll sich nicht einfühlen, es soll verhindert werden, daß das Spiel ihn in Trance versetzt, sein Vergnügen soll vielmehr darin bestehen, daß ihm sein Spiel, gewisse Vorgänge, die ihm vertraut sind und geläufig, verfremdet werden, damit er ihnen nicht als Hingerissener, sondern als Erkennender gegenüber sitzt, erkennend das Veränderbare, erkennend die besondereBedingtheit einer Handlung, genießen das höhere Vergnügen, daß wir eingreifen können, produzierend in der leichtesten Weise, denn die leichteste Weise der Existenz (sagt Brecht) ist in der Kunst … Es wäre verlockend, all diese Gedanken
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