Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
auch auf den erzählenden Schriftsteller anzuwenden; Verfremdungseffekt mit sprachlichen Mitteln, das Spielbewußtsein in der Erzählung, das Offen-Artistische, das von den meisten Deutschlesenden als ’befremdend‘ empfunden und rundweg abgelehnt wird, weil es ’zu artistisch‘ ist, weil es die Einfühlung verhindert, das Hingerissensein nicht herstellt, die Illusion zerstört, nämlich die Illusion, daß die erzählte Geschichte ’wirklich‘ passiert sei usw.
Breslau (Wroclav), 24. 8. 1948
Ankunft um Mitternacht. Großes und ausführliches Essen mit anderen Ankömmlingen, Jugoslawen, Mexikanern, Belgiern und anderen. Ein sehr ungutes Gefühl, das mich beim Betreten des Bahnsteiges erfaßt, hat mich über Nacht nicht verlassen. Rathaus heißt Razhus. Ich weiß nicht, wo ich bin. Schlesien ist die Heimat von Gerhart Hauptmann.
Die Jahrhunderthalle: – der Innenraum aus schalungsrohem Beton macht einen starken Eindruck, mehr als verblüffend, fast eine Stunde sitze ich da. Gespräch mit einer jungen Polin, die mir die Anschriften in der Ausstellung übersetzt hat. Eine Ausstellung über die neuen Gebiete, die zu Polen gekommen sind; architektonisch und graphisch ist die Ausstellung eine helle Freude. Der Beweis, daß Schlesien ein polnisches Land sei: mit dem gleichen Beweis könnte Österreich verlangen, daß wir nach siebenhundert Jahren unter seine Herrschaft zurückkehren. Die liebenswerte Polin, die seit einem Vierteljahr in Breslau wohnt, empfindet meine Einwände als feindselig. Zu Unrecht. Ernsthafter als diese völkischen Argumente, die nicht stimmen und immer mindestens zweischneidig sind, ist die genaue Darstellung, was die Deutschen in Polen getan haben; Zerstörung und Ausplünderungauf allen Gebieten erreichen einen Grad, der ein Weiterleben dieses unglücklichen Volkes, wenn nicht eine Entschädigung stattfindet, in Frage stellt. Das scheint mir der einzig mögliche Gesichtswinkel, wenn man über Schlesien zu sprechen hat: die Frage der Entschädigung. In immer neuen Hallen wird gezeigt, was in diesem neuen Gebiet bisher geleistet worden ist; besonders in Trümmerländern ist es natürlich eine Labsal, Erzeugnisse zu sehen, blanke Traktoren, Pflüge, Brückenträger, neue Eisenbahnwagen, Baustoffe aus altem Schutt, Maschinen, Werkzeuge, Geschirr, Geräte aller Art. Das Schauen ist erfreulich, nur das Denken ist erschreckend. Es wirkt wie eine Gebärde der Beschwörung, was sie jetzt überall anbringen: Polens neuen Umriß, überall, groß und klein, gemalt und gemodelt, Fresko, Relief, Maquette, geschrieben mit Glühbirnen, umflattert von Fahnen. Polen ohne die östlichen Gebiete, die Rußland genommen hat; dafür Schlesien, das ungeheure Geschenk. Was sollen sie tun? Die Tragödie der Polen ist ihre Geographie …
Abend an der Oder.
Jetzt, zum erstenmal, fühle ich mich wohler; allein in der Landschaft, die etwas Weites und doch Schweres hat. Das festliche Tingeltangel in der Ferne; vor mir der Fluß, die abendliche Spiegelung, das dröhnende Tuten der Schiffe, Rauch, Horizont mit Ruinen und Gasometer, Bäume, Sträucher, Himmel – später stehen zwei Polizisten hinter mir. Man darf hier nicht sitzen. Sie sehen das Abzeichen: Congrès Mondial des Intellectuels pour la Paix. Sie salutieren mit der Hand an der Mütze. Einer fragt in tadellosem Französisch, wie es mir gefalle in Polen.
»En Pologne –?«
»A Wroclav«, sagt der andere.
Ich antworte mit Zigaretten.
»Vous êtes Suisse?«
»Oui.«
»Je connais bien la Suisse«, sagt er: »La Suisse m'a sauvé –.«
Die Zigaretten stecken sie ein, so daß ich nur die eigene anzuzünden habe, während sie auf eine ungrimmige Art salutieren:
»Beau séjour, Monsieur – et bon travail.«
25. 8. 1948
Fadejew, der Führer der russischen Schriftsteller, hat den Kongreß eröffnet, indem er uns die Leviten gelesen hat, ganz allgemein, dann namentlich. Wenn er die Schriftsteller kennt, die er im Laufe einer Stunde maßregelt, indem er sie als Hyänen oder Mystiker oder Pornographen anspricht, verfügt er über eine beneidenswerte Belesenheit. Versammelt sind vierhundert Intellektuelle, gekommen aus Amerika, Indien, Rußland, Madagaskar, Ost-Berlin, Argentinien, England, Indonesien, Uruguay, Belgien, Italien, Tschechoslowakei, Mexiko, Schweden, Rumänien, Frankreich, Bulgarien, Exil-Spanien, Dänemark, Schweiz, Jugoslawien, Holland, Polen, Brasilien und so weiter … Der Saal ist geschmückt mit einer Garbe aller Fahnen; jeder Platz hat
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