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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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erzählt sie von Frankreich, wo sie zwei Jahre mit der Wehrmacht weilte, erzählt wie von einer Ferienreise, im Ton: Das war noch ein Leben. Da ich schweige, bricht sie ab, und kurz darauf folgen ihre bitteren Worte über die Besatzung, die eben im Jeep vorbeirast, über die Amerikaner ganz allgemein, die sie als Barbaren bezeichnet. Da ich ihr nicht beistimme, scheint sie ein wenig erschrocken; kurz darauf erhebt sie sich, schroff und ohne Gruß, wie man einen Angeber verläßt.
     
    Auf einer Wiese, draußen an der Isar, spielen sie Fußball, alle mit bloßem Oberkörper. Andere sitzen am Ufer, reihenweise wie die Möwen. Werktag. Sogar die Zeit erscheint wie Ramsch; ohne Eigentümer wie der Helm, den ich in einem Trichter mit Schutt und verrosteten Büchsen finde. Was soll man schon sehen daran! Er ist leer, und die Form, die ich in der Hand habe, kennen wir von hundert Bildern, die jahrelang an unseren Kiosken hingen und gekauft wurden, jahrelang mit lachenden und singenden Siegern darin –
    Eine alte Frau mit einem Bein.
    Endlich gebe ich die Büchsen, die einem Verschollenen bestimmt waren, und hoffe, daß der Spender, ein Flüchtling, einverstanden wäre.

Zur Schriftstellerei
    Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weiße zwischen den Worten, und immer reden diese Worte von den Nebensachen, die wireigentlich nicht meinen. Unser Anliegen, das eigentliche, läßt sich bestenfalls umschreiben, und das heißt ganz wörtlich: man schreibt darum herum. Man umstellt es. Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten, das unsagbar bleibt; sie können es nur umgrenzen, möglichst nahe und genau, und das Eigentliche, das Unsagbare, erscheint bestenfalls als Spannung zwischen diesen Aussagen.
    Unser Streben geht vermutlich dahin, alles auszusprechen, was sagbar ist; die Sprache ist wie ein Meißel, der alles weghaut, was nicht Geheimnis ist, und alles Sagen bedeutet ein Entfernen. Es dürfte uns insofern nicht erschrecken, daß alles, was einmal zum Wort wird, einer gewissen Leere anheimfällt. Man sagt, was nicht das Leben ist. Man sagt es um des Lebens willen. Wie der Bildhauer, wenn er den Meißel führt, arbeitet die Sprache, indem sie die Leere, das Sagbare, vortreibt gegen das Geheimnis, gegen das Lebendige. Immer besteht die Gefahr, daß man das Geheimnis zerschlägt, und ebenso die andere Gefahr, daß man vorzeitig aufhört, daß man es einen Klumpen sein läßt, daß man das Geheimnis nicht stellt, nicht faßt, nicht befreit von allem, was immer noch sagbar wäre, kurzum, daß man nicht vordringt zu seiner letzten Oberfläche.
    Diese Oberfläche alles letztlich Sagbaren, die eins sein müßte mit der Oberfläche des Geheimnisses, diese stofflose Oberfläche, die es nur für den Geist gibt und nicht in der Natur, wo es auch keine Linie gibt zwischen Berg und Himmel, vielleicht ist es das, was man die Form nennt?
    Eine Art von tönender Grenze –.

Unterwegs, Mai 1946
    Schönes deutsches Land! Nichts als ein Wogen von fruchtbarer Weite, Hügel und weiße Wolken darüber, Kirchen, Bäume, Dörfer, die Umrisse nahender Gebirge; dann und wann ein Flugplatz, ein Glitzern von silbernen Bombern, die in langen Reihen stehen, einmal ein zerschossener Tank, der schräg imGraben liegt und mit seiner Kanone in den Himmel zeigt, einmal ein verbogener Propeller in der Wiese –
    In Landsberg ist Alarm:
    Unser Jeep muß stoppen, wir werden geprüft, Wachen mit Helm und Pistole, Gurten mit glänzenden Patronen, es wimmelt von verwahrlosten Menschen, die mit den Händen fuchteln; ihre Sprache verstehe ich nicht, und auch am Ausgang des lieblichen Städtleins steht ein Panzerwagen, Kanone ohne Mündungskappe.
    Dann wieder die offenen Felder, die Allee, die uns seit Stunden begleitet, wieder das Wogen von gelassenen Hügeln, Wolken und Wäldern und wieder Baracken; ein Lager im gerodeten Wald, der Boden ist grau und kahl, pflanzenlos, es erinnert mich an eine Farm mit Silberfüchsen oder so, alles umzäunt und ordentlich und schnurgerade, ein Schachbrett hellichter Verzweiflung, Menschen, Wäsche, Kinder, Stacheldraht.
     
    Bregenz:
    Alles trieft von französischen Farben. Übermaß an Flaggen, das nie überzeugt, wie immer ihre Farben auch sind. Wir fahren gerade in einen Aufmarsch mit Trommeln, in eine Musik von aufpeitschender Eleganz, klar und leidenschaftlich, heiter, durchsichtig, frech und unwiderstehlich. Endlich kommen sie aus einer Gasse hervor, Gesichter voll Mittelmeer, die Haut wie schöner Lehm,

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