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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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für den Scharlatan letztlich nicht darin, daß man Furcht hat vor dem bekannten Schmerz, den jede Verneinung verursacht, vor allem natürlich die treffende; das eigentlich Quälende kommt daher, daß Marion ihre menschliche Beziehung für eine so schwache Brücke hält, die mit keinem Schmerzchen belastet werden könnte; für eine Beziehung, die nur am Spalier des Lobes gedeiht, und einmal mehr ist es der plötzliche Schrecken, daß einer sich einsamer sieht, als er eben noch meinte; diesmal der Scharlatan.
    Unterdessen ist auch die Sonne verschwunden – Marion erzählt von der Trebor. Wozu! Nur damit er sein Schweigen nicht hört, sein eigenes; denn je länger dieses Schweigen nun dauert, um so unentrinnbarer wird der weitere Verdacht, daß Marion die eben betrachtete Arbeit nicht offenherzig verneinen kann, weil auch das Ja, das er einmal zu früheren und anderen Arbeiten gab, plötzlich nicht stimmt. Es gibt jenes kleine Blatt nicht, das ihm lieber wäre. Obschon er es damals lobte. Er erinnert sich sehr deutlich daran; aber es war eine Lüge, die ihm vielleicht jetzt erst bewußt wird, jetzt, wo er darauf bauen sollte, und es gibt offenbarnichts zwischen ihnen, worauf man bauen könnte, nichts ohne Lüge –
    Dann aber:
    Wozu reden sie über alles andere, über Gott und die Welt, indem sie einander Zigaretten anbieten; wozu urteilen sie zusammen über andere Menschen?
     
    Und noch eins! Auch das Schweigen, ob wir wollen oder nicht, wird zu einer Aussage, die im Grunde von erstaunlicher Anmaßung ist; man verschweigt sein Urteil, weil man es platterdings für ein Todesurteil hält, unbedingt und gültig in einer Weise, die dem armen Scharlatan, dessen Bilder uns mißfallen, keine Hoffnung mehr läßt auf ein höheres Gericht. Nimmt man seine Meinung nicht zu wichtig? Auf jeden Fall, denkt Marion, wäre es besser gewesen, man hätte gesprochen.
    Aber wie?

Nach einem Flug
    Ein Flug über die Alpen, der nach einem anfänglichen Kitzel eine gewisse Leere hinterließ, beschäftigt mich doch immer wieder. Es sind vierzehn Jahre seit dem letzten Flug, der damals vom Bosporus nach Griechenland führte. Die Erinnerung von damals, verschüttet von den eignen Erzählungen, die man wie eine Platte immer wieder vorspielte, bis man sich nur noch an die eignen Worte, aber nicht mehr an das Erlebnis erinnerte, erfaßte mich als erstes, kaum sind wir in der Luft; das Dröhnen der Motoren, das fast zur Stille wird und uns von allem Erblickten sonderbar trennt, dazu der lautlose Flügel, der über die Äcker und die Dächer schwankt, hin und wieder ein kleines Luftloch, das genügt: man könnte, während wir gerade über die allernächste Heimat fliegen, vom Schwarzen Meer erzählen wie zum erstenmal, von den Dardanellen, von Troja, von der Stunde über dem küstenlosen Meer; hinter der anekdotischen Erstarrung, der fast alle unsere Erinnerungen verfallen, ist alles noch da …
     
    Der Blick auf den See:
    Die weißen Segelchen erscheinen wie auf eine Glasscheibe gesetzt, das Wasser nicht als tragende Masse, die Durchsicht in die grüne Seichte, überhaupt das Röntgenhafte dieser Aufsicht – ich erinnere mich an ein versenktes Kriegsschiff, das wir damals in den Dardanellen unter Wasser sahen; – hier ist es vor allem die Nagelfluhkante, die man deutlich verfolgen kann, jener jähe Absturz, der schon so manchem Nichtschwimmer zum plötzlichen Verhängnis wurde; fast komisch wirken die säuberlichen Gärtlein, deren Insassen sich an einer lauteren Wasserhelle wähnen; aus der Höhe zeigt sich, daß wir an einer traumhaft-trüben Wildnis von Schlamm und Schlingzeug wohnen, harmlos und ahnungslos wie unserem Unbewußten gegenüber. Das Röntgenhafte auch auf dem Land: die ockerbleiche oder schwarze Zeichnung in den Äckern, die wie eine Geheimschrift zum Vorschein kommt. Teilweise sind es alte Bachläufe, die ohne weiteres sich lesen lassen; anderes bleibt rätselhaft. In England, höre ich von einem Kollegen, hat man verschüttete Ursiedlungen entdeckt, die sich in der Magerkeit der Wiesen oder Wälder verrieten; gewissermaßen wie ein geometrisches Wasserzeichen.
     
    Das einzige, was mich für Augenblicke erschreckt, ist das fast unverschämte Gefühl von Sicherheit, das sich auch bei leichtem Sacken nicht verliert, im Gegenteil; die Luft als spürbarer Stoff; das natürlich-sichere Gefühl eines Schwimmers; es geht bis zum Bedauern, daß man in dieser Kajüte hocken muß, daß man nicht an einem Leiterchen auf den breiten

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