Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
es, daß sie bereits zu Tode geschunden sind, und keinesfalls, das weiß ich, wird die Salve, die mich allenfalls umlegt, sie davor bewahren …
Was tun?
Hinzu kommt, daß meine Frau, wie ich eben erfahren habe, inzwischen auch verhaftet worden ist; bisher wurde sie nicht gefoltert; auch das steht jederzeit in ihrer Macht, um mich zu zwingen –.
Was tun?
Und hinzu kommt das Bewußtsein, daß wir keinerlei Verbrechen begangen haben, nicht einmal in ihrem Sinn, nicht einmal eine Verschwörung; wir wissen nur, daß es Folterkammern gibt in unsrer Stadt, wissen es, weil wir die täglichen Schreie hören und jedesmal sehen, wie sie die rohen, die ungehobelten und ungestrichenen Särge verladen, und wir weigern uns, hinzutreten vor unser Volk und zu schwören, daß es in unsrer Stadt keine einzige Folterkammer gebe –.
Der Sergeant:
»Überlegen Sie es sich«, sagt er: »Sie haben, laut allgemeiner Order, eine Frist von zehn Minuten.«
Auch ein Geistlicher steht dabei.
»Ich bin befohlen«, sagt er tonlos: »um dir, falls du dich dazu entschließen kannst, den Eid abzunehmen.«
Er duzt mich, weil wir zusammen in die Schule gegangen sind, ins Gymnasium, er saß in der Reihe vor mir, ich erinnere mich nur noch an seinen Vornamen.
»Gewehre bei Fuß!«
Nach diesem Kommando, das mit mechanischem Schneid und wie durch einen einzigen Hebelgriff ausgeführt worden ist, so daß man von den fünf Kolben nur einen einzigen Aufschlag hört, ist der Sergeant zur Seite getreten – nicht ohne zuvor auf seine Uhr zu blicken –, jetzt pißt er an einen Stein; sonst höre ich nichts; die fünf Gewehre bei Fuß, Sonne wie jetzt, Schmetterlinge, Stille einer verlassenen Kiesgrube …
Was tun?
Café Odeon
Die Unmöglichkeit, sittlich zu sein und zu leben – oder man läßt eben beides im Halben … Die Sittlichkeit, wie sie uns gelehrt wird, schließt immer schon die weltliche Niederlage in sich; wir retten die Welt nicht vor dem Teufel, sondern wir überlassen ihm die Welt, damit wir nicht selber des Teufels werden. Wir räumen einfach das Feld: um sittlich zu sein. Oder wir räumen es nicht;wir lassen uns nicht erschießen, nicht ohne weiteres, nicht ohne selber zu schießen, und das Gemetzel ist da, das Gegenteil dessen, was wir wollen …
Man kann darauf bedacht sein, das Gute durchzusetzen und zu verwirklichen, oder man kann darauf bedacht sein, ein guter Mensch zu werden – das ist zweierlei, es schließt sich gegenseitig aus.
Die meisten wollen gute Menschen sein.
Niemand hat größere Freude daran, wenn wir gute Menschen werden, als der Böse. Solange die Menschen, die das Gute wollen, ihrerseits nicht böse werden, hat der Böse es herrlich!
(Solange die Armen nicht »stehlen«.)
Amoralität bei starken Köpfen ist wohl meistens nichts anderes als die Sehnsucht nach einer anderen, einer lebbaren Sittlichkeit.
Tägliche Erfahrung im kleinen: Dein Anstand ist die beste und billigste Waffe deiner Feinde! Du hast dir versprochen, nicht zu lügen – zum Beispiel – und das ist schön von dir, splendid, wenn du es dir leisten kannst; es ist närrisch, wenn du dir einbilden würdest, daß du damit ohne weiteres der Wahrheit dienst. Du dienst deiner Anständigkeit.
Gewisse sittliche Forderungen, glaube ich, wären längstens vergessen, wenn nicht die Unsittlichen, die sich von diesen Forderungen befreit haben, ein natürliches Interesse daran hätten, daß die anderen sich durch diese Forderungen fesseln lassen – das gilt für alle christlichen Forderungen, die den Besitz betreffen …
Die ganze Erziehung, die nicht nur unsere Kirche, sondern auch unsere Schulen abliefern, geht wesentlich dahin, daß wir anständige Menschen werden, beispielsweise daß wir nicht stehlen – sie geht nicht dahin, daß wir uns wehren, wo immer gestohlen wird, und daß wir für das Gute, das sie uns lehrt, kämpfen sollen. Das Gute, wir wissen es, läßt sich allerhöchstens in deiner eignenBrust verwirklichen. Ein guter Gedanke, gewiß, gut für die Herrschenden.
Die Unmöglichkeit, sittlich zu sein und zu leben – ihre Zuspitzung in Zeiten des Terrors. Womit arbeitet jeder Terror? Mit unsrem Lebenswillen und also mit unsrer Todesangst, ja, aber ebenso mit unsrem sittlichen Gewissen. Je stärker unser Gewissen ist, um so gewisser ist unser Untergang. Je größer eine Treue, um so gewisser die Folter. Und das Ergebnis jedes Terrors: die Schurken gehen ihm durch die Maschen. Denn der Terror, scheint es,
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