Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
eignet sich besonders zur Vernichtung sittlicher Menschen. Er ist auf eine gewisse Sittlichkeit berechnet; sein früheres oder späteres, aber unweigerliches Versagen hängt vielleicht damit zusammen, daß er die Sittlichkeit verbraucht, bis er niemanden mehr daran fassen kann. Und vor allem entwertet er auch das Leben, die Lust am Leben, bis es keinen übermenschlichen Mut mehr braucht, ein entwertetes Leben einzusetzen gegen ihn – nicht als Opfer in der Kiesgrube, wo es zu spät ist, nicht als sittlicher Märtyrer, sondern als unsittlicher Täter, bevor es zu spät ist: als Attentäter.
Frankfurt, April 1948
Vor dem alten Römer: Hohes Seil über Trümmern, Maste aus Eisen, unverbogen, unverrostet, jeder in einer Garbe von Kabeln, die ihn nach allen Seiten verankern, man denkt nicht sogleich an Seiltänzer, eher an Kranen, wenn die bunten Wimpel nicht wären, oder an die Takelage eines versunkenen Schiffes, versunken nicht in die Wogen eines Meeres, sondern in Wogen von Schutt, von vergrasendem Backstein … Immer grüner, ländlicher, blühender zieht der Frühling in deutsche Städte … Am Abend aber, wenn die Ruinen im Scheinwerfer stehen, ist alles noch märchenhafter; das milchige Licht, das sich in die grünliche Finsternis spreizt, manchmal ein glitzernder Falter darin, und im Hintergrund, jenseits der blinkenden Trapeze, steht der Dom,ein flacher Umriß, ein Scherenschnitt, eine gewichtlose Blässe von rotem Sandstein, körperlos hinter einem Gitter von kreuzenden Scheinwerfern. Und darüber auch noch der Mond, der volle, der gerade im Netz der Seiltänzer liegt; der Mond, Lampion der Verliebten, Laterne der Strolche, Kleinod der Dilettanten, Trost in der Fremde, Gong der Erinnerung, vor allem aber die Garantie, daß das All nicht ohne Poesie ist, das All, die Nacht, der Tod, nicht ohne Poesie, nicht ohne Gemüt … Das Trikot der Artisten, die jetzt dreißig Meter über unsrer Erde schweben, erscheint in seinem Licht wie wirkliche Seide.
»Meine Herrschaften!« sagt der etwas blecherne und hallende Lautsprecher: »Auch der Artist will nichts anderes als Sie, auch der Artist will leben! Was Sie als nächste Nummer sehen –.«
Ein Handstand auf wankender Fahnenstange – unwahrscheinlich, was der Mensch alles macht, um zu leben. Schon sind es drei und fünf und sieben Menschen, die am Kiefer eines jungen Mannes hangen, an der Geistesgegenwart eines Kindes, das gerade gestern, wie der Lautsprecher unterrichtet, seinen zehnten Geburtstag hatte … Kalte wolkenlose Nacht, Frühling, der dritte Abend in einer fremden Stadt, die nicht mein Ziel ist; wenn man sich zuweilen wundert: wieso sitze ich gerade hier und nicht anderswo in der Welt, hier in nächtlicher Ruine und Gotik, die zum munteren Tingeltangel wird, halb Bar, halb Kirmes –.
»Was Sie als sechste Nummer sehen«, sagt der hallende Lautsprecher: »das hat auf dieser Welt noch kein menschliches Auge erblickt! Wir sind stolz darauf, daß es junge deutsche Artisten sind –.«
Zwei Burschen, jeder auf einem glitzernden Velo, nehmen eine weiße Stange von Schulter zu Schulter; auf diese Stange kommt ein drittes Velo, nicht minder glitzernd; aber nicht genug, daß sie mit dieser Pyramide über das hohe Seil fahren: der Oberste, um den Rest unseres Atems auszuschalten, läßt auch noch die Lenkstange los, hebt sich zum Handstand auf dem Sattel, während die beiden Unteren radeln – dreißig Meter über unserer Erde, das heißt, über Backsteinen mit verbogenen Eisen, überResten eines romanischen Tores, über Unkraut in einer verrosteten Badewanne …
»Meine Herrschaften«, sagt der Lautsprecher: »die Künstler danken für Ihren großen Beifall. Folgen Sie bitte unserem Scheinwerfer, richten Sie jetzt Ihren freundlichen Blick hinüber auf die Nikolaikirche.«
Wir richten unsern Blick hinüber. Plötzlich rattert ein Motorrad, erst unsichtbar, dann aber plötzlich fährt es empor auf einem Seil, das in der Nacht nicht zu erkennen ist, empor gegen den erleuchteten Kirchturm, rattert, pufft, knallt, bis es nicht mehr weiter kommt, langsam rollt es zurück in die Ruine des Kirchenschiffes. Die Nummer ist mißlungen, der Lautsprecher bittet um Nachsicht, der Motor hat versagt. Doch die nächste Nummer ist schon bereit: drüben am Dom, ganz oben im gotischen Zierat, erkennt man zwei weiße Menschlein; ein Seil, fünfhundert Meter lang, spannt sich vom Dom hinunter an den Main. Leider bittet mich eine Dame um Feuer; als mein Feuerzeug endlich
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