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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Buchhaltung für den Goldschmied, was nicht viel Arbeit ist; sie ist unersetzlich. Später wieder sitzt er am runden Tisch in der Bodega; er sieht sich die jungen Bärte an, trinkt, spricht mit niemand. Nimmt er eine Zeitung, so kommt ihm vor, als habe er alles schon gelesen. Vielleicht hat sie ihn verlassen. Was er macht, wenn er so da sitzt und schweigt: er rechtfertigt sich. Schließlich hat er einen Laden gegründet aus eigener Kraft, schließlich ist seine Arbeit unter Fachleuten anerkannt usw. Zwei Kinder, jetzt schon erwachsen und selbständig, merken, daß er ihre Achtung braucht; sein Eigenlob macht es ihnen nicht leicht. Sie hat ihn nicht verlassen; sie weiß, daß der Goldschmied sie braucht, und trägt ihr Kreuz mit Anstand. Sie ist Mitte 40. Es wird sich nichts mehr ändern. Eigentlich kann er sich ihr Leben nicht vorstellen. Sie kommt mit der Einkaufstasche in die Bodega und trinkt auch einen Clarete. Vielleicht schon sehr früh, schon am ersten Abend hatsie gemerkt, daß man ihn unsicher machen kann. Er galt als Draufgänger; Erfolg bei Frauen usw. Er überredete sie zu einer Bootfahrt, um als Ruderer seine Tüchtigkeit zu zeigen, und empfand es als Versagen seinerseits, als es zu regnen begann. Sein Versagen jetzt ändert nichts an ihrer Beziehung zu ihm, im Gegenteil, es bestätigt sie. Wie er in der Bodega den gemeinsamen Wein bezahlt, ihre Einkaufstasche nimmt und ihr dann den Mantel hält und wartet, wie er nicht zu sagen wagt: Jetzt komm schon! und wie er sich verantwortlich macht, wenn sie beinahe ihre Handschuhe vergessen hätte –
     
     
    BERZONA
     
    Das Dorf, wenige Kilometer von der Grenze entfernt, hat 82 Einwohner, die Italienisch sprechen; kein Ristorante, nicht einmal eine Bar, da es nicht an der Talstraße liegt, sondern abseits. Jeder Gast aus den Städten sagt sofort: Diese Luft! dann etwas bänglich: Und diese Stille! Das Gelände ist steil: Terrassen mit den üblichen Trockenmauern, Kastanien, ein Feigenbaum, der Mühe hat, Dschungel mit Brombeeren, zwei große Nußbäume, Disteln usw. Man soll sich hüten vor Schlangen. Als Alfred Andersch, schon seit Jahren hier wohnhaft, auf das kleine Anwesen aufmerksam machte, war das Gebäude verlottert, ein altes Bauernhaus mit dicken Mauern und mit einem turmartigen Stall, der jetzt Studio heißt, alles mit Granit gedeckt. Das Tal (Val Onsernone) hat keine Sohle, sondern in seiner Mitte eine tiefe und wilde Schlucht, in die wir noch nie hinabgestiegen sind; seine Hänge sind waldig, darüber felsig und mit den Jahren wahrscheinlich langweilig. Im Winter habe ich es lieber. Die einheimische Bevölkerung lebte früher von Strohflechterei, bisauf dem Markt zu Mailand plötzlich die japanischen Körbe und Hüte und Taschen erschienen; seither ein verarmendes Tal.

Vorsatz
    Vieles fällt natürlich nach fünf Jahren im Ausland (Rom) deutlicher auf, ohne deswegen nennenswert zu werden, wenn es nicht zu neuen Einsichten führt, und das ist bisher nicht der Fall gewesen. Daher der Vorsatz, über die Schweiz mindestens öffentlich keine Äußerungen mehr zu machen.
     
    . . .
     
    Tatsächlich haben Ausländer, die in der Schweiz wohnen, oft ein froheres Verhältnis zu diesem Land als unsereiner. Sie enthalten sich jeder fundamentalen Kritik; unsere eigene Kritik ist ihnen eher peinlich, sie möchten diesbezüglich verschont bleiben. Was, außer dem schweizerischen Bankgeheimnis, zieht sie an? Offenbar doch allerlei: Landschaftliches, die zentrale Lage in Europa, die Sauberkeit, Stabilität der Währung, weniger der Menschenschlag (da verraten sie sich gelegentlich durch pejorative Klischees), vor allem aber eine Art von Dispens: es genügt hier, daß man Geld und Papiere in Ordnung hat und auf keine Veränderung sinnt. Wenn nicht gerade die Fremdenpolizei sie ärgert, so ist die Schweiz für den Ausländer in der Schweiz kein Thema. Was sie genießen: Geschichtslosigkeit als Komfort.
     
    . . .
     
    Das Versprechen, über die Schweiz keinerlei Äußerungen mehr zu machen, ist leider schon gebrochen. (»Ein kleines Herrenvolksieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen«.) Vielleicht war die Heimkehr verfrüht.
     
     
    CASA DA VENDERE
     
    Das kommt vor: eine Villa steht schon seit längerer Zeit verlassen, von den Bewohnern keine Spur. Es scheint, daß die Leute einfach aufgestanden sind vom Tisch, ohne abzuräumen; Risotto in einer Schüssel verschimmelt, Wein in einer offenen Flasche, Reste von Brot steinhart.

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