Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Faßt man sie an: körnig, die steinerne Wärme des vergangenen Tages. Gegen die Blässe des Abendhimmels zeigt sie ihre Entschuldigung: Verwitterung durch Jahrhunderte, ihr verwaschenes Profil schwarz gegen die präzislichte Dämmerung, die gerade den ersten Stern zuläßt.
Vereinigung Freitod
(Schluß.)
Jeder Verein hat seine Zeit. Kommt es bei einer Jahresversammlung vor, daß zuhanden der Anwärter an den Zweck unsrer Vereinigung erinnert werden muß (Freitod als sittliches Gebot), so ist es wie immer, wenn eine Verfassung feierlich in Erinnerung gebracht wird: es ist nichts dagegen einzuwenden, obschon sie noch nie verwirklicht worden ist.
Je greisenhafter die Mitglieder werden, um so weniger erschreckt sie die Überalterung der abendländischen Gesellschaft; sie finden, es gebe junge Menschen genug, mehr als genug –
Die Revolte der Jugend wirkt sich eher ungünstig aus, indem gerade die Mitglieder, die über ihre Söhne erbittert sind, keinesfalls abtreten wollen. Sie fühlen sich unverstanden. Sie meinen durchhalten zu müssen, bis ihnen noch einmal Recht widerfährt, und das heißt: bis ihre Söhne auch über 50 sind.
Auch Mitglieder, die ein schlankes Gesicht haben: ihre Wasserbäuche. Vor allem wenn sie sitzen, so immer mit offener Jacke, die von ihren schmalen Schultern hängt wie von einer Vogelscheuche, und es sieht aus, als tragen sie einen Ballon in der hohen Hose. Die Kellner, die bei unseren Zusammenkünften bedienen, haben eine Geduld wie Wärter im Zoo, oder wenn es Kellnerinnen sind, so sprechen sie wie Kindergärtnerinnen. Wir gehen einander auf die Nerven; jeder hat das Gefühl, daß man ihn nicht zu Wort kommen lasse, und dabei redet er unentwegt; wir hören einander bloß nicht zu. Je mehr einer weiß, um so schlimmer; sie können ihr Wissen nicht mehr halten. Ich kann von BAUHAUS nicht mehr hören, von ZÜRCHER SCHAUSPIELHAUS usw.
Das geplante HANDBUCH kommt nicht zustande; es fällt mir nichts mehr dazu ein, und wie ich einmal die Notizen lese, kommen mir diese Beobachtungen und Mutmaßungen, die mich vor Jahren beschäftigt haben, unzutreffend vor; auch der Schrecken vor dem Alter nutzt sich ab. Das kommt noch dazu.
Laut Statistik hat sich das durchschnittliche Lebensalter weiter erhöht; als ich 73 bin, beträgt das durchschnittliche Lebensalter bereits 74 – ich erkläre meinen Austritt …
Handbuch für Mitglieder
Wer alt wird, ist selber schuld.
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