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Tagebücher: 1909-1923

Tagebücher: 1909-1923

Titel: Tagebücher: 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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man Fabriken bauen) darauf, daß die Auswanderung der Tschechen nach Amerika so groß ist und daß die einzelweise von dort Zurückkehrenden neues Streben von dort mitbringen.
      Sobald ich irgendwie erkenne, daß ich Übelstände, zu deren Beseitigung ich eigentlich bestimmt wäre (z. B. das äußerst zufriedene, von mir aus gesehen trostlose Leben meiner verheirateten Schwester) auf sich beruhen lasse, verliere ich auf einen Augenblick das Gefühl meiner Armmuskeln.

      Ich werde versuchen, allmählich alles Zweifellose an mir zusammenzustellen, später das Glaubwürdige, dann das
      Mögliche u. s. w. Zweifellos ist in mir die Gier nach Büchern. Nicht eigentlich sie zu besitzen oder zu lesen, als vielmehr sie zu sehn, mich in der Auslage eines Buchhändlers von ihrem Bestand zu überzeugen. Sind irgendwo mehrere Exemplare des gleichen Buches freut mich jedes einzelne. Es ist, als ob diese Gier vom Magen ausgienge, als wäre sie ein irregeleiteter Appetit. Bücher die ich besitze freuen mich weniger, dagegen Bücher meiner Schwestern freuen mich schon. Das Verlangen sie zu besitzen ist ein unvergleichlich kleineres, es fehlt fast.
    12. XI 11 Sonntag. Gestern Conference Richepin “La legende de Napoleon” im Rudolphinum. Ziemlich leer. Wie zur Prüfung der Manieren des Vortragenden ist auf dem Weg vom Eingangstürchen zum Vortragstisch ein großes Klavier aufgestellt. Der Vortragende kommt herein, will mit dem Blick ins Publikum auf dem kürzesten Weg zu seinem Tisch, kommt daher dem Piano zu nahe, staunt, tritt zurück und umgeht es sanft, ohne mehr ins Publikum zu schauen. In der Begeisterung des Abschlusses seiner Rede und im großen Beifall hat er an das Piano natürlich längst vergessen, da es sich während des Vortrags nicht bemerkbar gemacht hat, er will möglichst spät die Hände auf der Brust dem Publikum den Rücken kehren, macht daher einige elegante Schritte seitwärts, stößt natürlich ein wenig an das Piano und muß auf den Fußspitzen den Rücken ein wenig durchbiegen, ehe er wieder in freies Terrain kommt. So hat es wenigstens Richepin gemacht. – Ein großer starker Fünfziger mit Taille. Die steif umherwirbelnde Frisur Daudets z. B. ist ohne zerstört zu sein, ziemlich fest an den Schädel gedrückt. Wie bei allen alten Südländern, die eine dicke Nase und das zu ihr gehörige breite faltige Gesicht haben, aus deren Nasenlöchern ein starker Wind wie durch Pferdeschnauzen gehn kann und denen gegenüber man genau weiß, daß dies der nicht mehr zu überholende, aber noch lang andauernde Endzustand ihres Gesichtes ist, erinnerte mich auch sein Gesicht an das Gesicht einer alten Italienerin hinter einem allerdings sehr natürlich gewachsenem Bart. – Die neu gestrichene hellgraue Farbe des hinter ihm aufsteigenden Concertpodiums beirrte anfangs. Das weiße Haar klebte sich förmlich an dieser Farbe fest und ließ keine Kontur zu. Wenn er den Kopf zurückbeugte kam die Farbe in Bewegung, sein Kopf versank fast in ihr. Erst gegen die Mitte des Vortrags als sich die Aufmerksamkeit ganz koncentrierte, hörte die Störung auf, besonders als er beim Recitieren mit dem großen schwarzgekleideten Körper aufstand und mit geschwungenen Händen die Verse führte und die graue Farbe verjagte. – Am Anfang war er zum verlegen werden, so sehr machte er Komplimente nach allen Seiten. Bei der Erzählung von einem napoleonischen Soldaten, den er noch gekannt und der 57 Wunden gehabt hatte, bemerkte er, die Mannigfaltigkeit der Farben auf dem Oberkörper dieses Mannes hätte nur ein großer Colorist wie sein anwesender Freund Mucha nachahmen können. – Ich bemerkte an mir ein Fortschreiten im Ergriffensein durch Menschen auf dem Podium. Ich dachte nicht an meine Schmerzen und Sorgen. Ich war in die linke Ecke meines Fauteuils eigentlich aber in den Vortrag hineingedrückt, die gefalteten Hände zwischen den Knien. Ich spürte eine Wirkung Richepins auf mich, wie sie Salomo hat spüren müssen, als er junge Mädchen ins Bett nahm. Ich hatte sogar eine leichte Vision Napoleons, der in einer systematischen Phantasie auch aus dem Eingangstürchen trat, trotzdem er doch aus dem Holz des Podiums oder aus der Orgel hätte treten können. Er drückte den ganzen Saal, der in diesen Augenblicken dicht gefüllt war nieder. So nah ich ihm eigentlich war, ich hatte und hätte auch in Wirklichkeit niemals Zweifel an seiner Wirkung gehabt. Ich hätte jede Lächerlichkeit seines Aufzuges vielleicht bemerkt, wie

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