Tagebücher: 1909-1923
Aussehn und Benehmen nach den ein oder zwei Junggesellen unserer Jugenderinnerungen ausbilden. Das alles ist wahr, nur begeht man leicht dabei den Fehler die künftigen Leiden so sehr vor sich auszubreiten, daß der Blick weit über sie hinweggehn muß und nicht mehr zurückkommt, während man doch in Wirklichkeit heute und später selbst dastehen wird, mit einem wirklichen Körper und einem wirklichen Kopf also auch einer Stirn um mit der Hand an sie zu schlagen.
Jetzt eine Skizze zur Einleitung für Richard und Samuel versuchen.
15 XI 11 Gestern abend schon mit einem Vorgefühl die Decke vom Bett gezogen, mich gelegt und wieder aller meiner Fähigkeiten mir bewußt geworden, als hielte ich sie in der Hand; sie spannten mir die Brust, sie entflammten mir den Kopf, ein Weilchen wiederholte ich, um mich darüber zu trösten, daß ich nicht aufstand um zu arbeiten: Das kann nicht gesund sein, das kann nicht gesund sein und wollte den Schlaf mit fast sichtbarer Absicht mir über den Kopf ziehn. Immer dachte ich an eine Mütze mit Schirm, die ich um mich zu schützen, mit starker Hand mir in die Stirne drücke. Wie viel habe ich gestern verloren, wie drückte sich das Blut im engen Kopf, fähig zu allem, und nur gehalten von Kräften, die für mein bloßes Leben unentbehrlich sind und hier verschwendet werden.
Sicher ist, daß ich alles, was ich im voraus selbst im guten Gefühl Wort für Wort oder sogar nur beiläufig aber in ausdrücklichen Worten erfunden habe, auf dem Schreibtisch beim Versuch des Niederschreibens, trocken, verkehrt, unbeweglich, der ganzen Umgebung hinderlich, ängstlich, vor allem aber lückenhaft erscheint, trotzdem von der ursprünglichen Erfindung nichts vergessen worden ist. Es liegt natürlich zum großen Teil daran, daß ich frei vom Papier nur in der Zeit der Erhebung, die ich mehr fürchte als ersehne, wie sehr ich sie auch ersehne, Gutes erfinde, daß dann aber die Fülle so groß ist, daß ich verzichten muß, blindlings also nehme nur dem Zufall nach, aus der Strömung heraus, griffweise, so daß diese Erwerbung beim überlegten Niederschreiben nichts ist im Vergleich zur Fülle, in der sie lebte, unfähig ist, diese Fülle herbeizubringen und daher schlecht und störend ist, weil sie nutzlos lockt.
16. IX (November) 11 Heute mittag vor dem Einschlafen – ich schlief aber gar nicht ein – lag auf mir der Oberkörper einer Frau aus Wachs. Ihr Gesicht war über dem meinen zurückgebogen, ihr linker Unterarm drückte meine Brust.
Drei Nächte nicht geschlafen, bei dem kleinsten Versuche etwas zu machen, gleich auf dem Grunde meiner Kraft.
aus einem alten Notizbuch: “Jetzt abend nachdem ich von 6 Uhr früh an gelernt habe, bemerkte ich, wie meine linke Hand die rechte schon ein Weilchen lang aus Mitleid bei den Fingern umfaßt hielt. “
18. XI 11 Gestern in der Fabrik. Mit der Elektrischen zurückgefahren, in einem Winkel mit ausgestreckten Beinen gesessen, Menschen draußen gesehn, angezündete Geschäftslampen, Mauern durchfahrener Viadukte, immer wieder Rücken und Gesichter, aus der Geschäftstraße der Vorstadt hinausführend eine Landstraße mit nichts Menschlichem als nachhausegehenden Menschen, die schneidenden, in das Dunkel eingebrannten elektrischen Lichter des Bahnhofgeländes, niedrige stark sich verjüngende Kamine eines Gaswerks, ein Plakat über das Gastspiel einer Sängerin de Treville, das sich an den Wänden hintastet bis in eine Gasse in der Nähe der Friedhöfe, von wo es dann wieder mit mir aus der Kälte der Felder in die wohnungsmäßige Wärme der Stadt zurückgekehrt ist. Fremde Städte nimmt man als Tatsache hin, die Bewohner dort leben, ohne unsere Lebensweise zu durchdringen, so wie wir ihre nicht durchdringen können, vergleichen muß man, man kann sich nicht wehren, aber man weiß gut, daß das keinen moralischen und nicht einmal psychologischen Wert hat schließlich kann man oft auch auf das Vergleichen verzichten, da die allzugroße Verschiedenheit der Lebensbedingungen uns dessen enthebt. Die Vorstädte unserer Vaterstadt aber sind uns zwar auch fremd, doch haben hier Vergleiche Wert, ein halbstündiger Spaziergang kann es uns immer wieder beweisen, hier leben Menschen teils im Innern unserer Stadt teils am ärmlichen dunklen wie einem großen Hohlweg zerfurchten Rande, trotzdem sie alle einen so großen Kreis gemeinsamer Interessen haben, wie keine Menschengruppe sonst außerhalb der Stadt. Darum betrete ich die Vorstadt stets
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