Kindermund (German Edition)
W agt es nicht, mein Fahrrad zu berühren, ihr Dreckstauben! Mein wunderschönes neues Fahrrad!« Babbo, wie ich meinen Vater jetzt nennen soll, hat es mir zum Geburtstag geschenkt. Ich bin sechs Jahre alt. »Schert euch weg, die ganze Terrasse scheißt ihr voll, das ist mein Spielplatz!«
Zum Ausgehen angezogen, in Mantel, weißen Schnürstiefeln und Baskenmütze stehe ich in der Küche dicht an der Balkontür und schaue durch die beschlagene Scheibe. Mama kocht Suppe. Ich wische mit den Fingern ein Loch ins Glas und überwache Scharen von Tauben, die mein Fahrrad bedrohen. Nebel hat die Terrasse in Watte gehüllt. Aber ich sehe sie genau, meine Feinde: Fett sind sie und ungewöhnlich fleißig am Picken. Wie eklig sie sich bewegen, dieses Zucken, dieses ständige Ruckeln! Ich halte mir die Ohren zu, ich will das Gurren nicht mehr hören. Mama kocht immer noch Suppe. Der Dampf breitet sich aus. Ich fange an zu schwitzen.
Seit dem Tod von Mamas Schwester, der Trennung der Großeltern und der Scheidung meiner Eltern lebe ich mit Mama bei Felizian, ihrem Vater. Ich fürchte mich vor seiner hohen, hageren Gestalt, und wenn er mit schlurfenden Schritten näher kommt und mich von weit oben aus zornig funkelnden Augen anstarrt und mit dem Zeigefinger droht. Mein Großvater ist ein alter Mann, aber er praktiziert noch als Arzt und schreibt dramatische Opern. Leider trinkt er auch sehr viel Alkohol. Obwohl Mama ihm in der Praxis hilft und den Haushalt führt, ist das alles nicht unter einen Hut zu bringen.
Eines Morgens, der Flur ist mit Patienten vollgestopft, laufe ich ins Behandlungszimmer, um Großvater zu suchen. Er steht hinter der Tür und zittert am ganzen Körper. Mithastigen Schlucken kippt er den Inhalt einer Flasche in seine Kehle. Scharfer Geruch breitet sich aus, ich halte mir die Nase zu und laufe hinaus.
In der Wohnung gibt es neben dem Untersuchungsraum noch ein Schlafzimmer für Mama und mich, eines für meinen Großvater, eine Küche, ein Bad, ein Klo und einen schmalen, langen Flur, durch den sich ein Läufer wie ein roter Pfeil vom Anfang bis zum Ende zieht.
Es regnet oft in diesem Frühjahr. Dann ist draußen alles grau und glitschig. Trotzdem übe ich täglich Fahrradfahren. Babbos Geschenk funkelt rot. Ich streiche liebevoll über den Lack. Ist er nass vom Regen, reibe ich mit meinem Kleid so lange über den Rahmen, bis er glänzt. Das Kleid ist dann schmutzig und knittrig. Mama wird mich schimpfen, aber das ist mir egal. Ich setze mich auf den Sattel und hangle mich langsam vorwärts, immer eine Hand am Geländer der Terrasse. Es ärgert mich, wenn die Reifen durch Taubenscheiße fahren und sich weiß verfärben.
Manchmal halte ich an und beobachte eine Katze auf dem Dach gegenüber, die sich lüstern am Kamin reibt. Sie sieht mich unentwegt an. Es reizt mich, ihr die Zunge herauszustrecken. Dann dreht sie sich beleidigt weg und würdigt mich keines Blickes mehr, sosehr ich auch locke, pfeife, rufe. Das verwitterte Teerdach wellt sich über eine Hausruine. An manchen Stellen bläht es sich oder ist aufgeplatzt wie ein Geschwür, aus dem eine Pflanze wächst. Die Ränder sehen abgefressen aus, und die Regenrinne läuft immer über. In der Backsteinmauer fehlen Steine. Sie liegen verstreut im Hof, aber niemand kümmert sich darum. Über der Haustür, die mit Brettern zugenagelt ist, sind noch verwaschene Reste eines Namens zu lesen. Einige Buchstaben fehlen. Ich frage Mama manchmal, was da früher gestanden hat, aber sie zuckt nur mit den Schultern.
Wenn Mama mich ruft, stelle ich mein Fahrrad so ab, dass es auf keinen Fall das rostige Geländer berührt.
Babbo hält sich seit längerer Zeit in Wien auf, um Arbeit zu finden. Er erscheint immer unangemeldet, mit einem Geschenk im Arm, und nimmt mich mit sich fort. Eines Nachts toben draußen Blitz und Donner. Da steht er plötzlich in der Tür und bringt mir eine Negerpuppe. Sie kommt direkt aus Afrika, sagt er. Ich glaube ihm, sie riecht nach Sonne und Wüste, nach Afrika eben. Oder er schickt einen Expressboten, der geheimnisvolle Pakete für mich abgibt. Ich reiße gierig Papier und Karton auf und stürze mich auf den Inhalt: Puppen, Stofftiere, ein Kleid oder Schuhe, die mir regelmäßig zu klein sind. Einmal kommt eine Kuh aus meergrünem Samt, bestickt mit bunten Glassteinen, zum Vorschein. Sie ist einem orientalischen Märchen entstiegen, das sehe ich sofort. Diese Kuh wird von mir so sehr gestreichelt, gedrückt, geliebt, dass nach kurzer
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