Anständig essen
[Menü]
1
Dezember 2009
»Ich habe nichts erreicht. Was will man mit Filmchen bewirken, wenn nicht mal Tschernobyl was bewirkt?«
(Horst Stern)
An dem Tag, an dem ich beschloss, ein besserer Mensch zu werden, stand ich morgens in einem Rewe-Supermarkt und hielt einen flachen Karton mit der Aufschrift »Hähnchen-Grillpfanne« in der Hand. Ein gern und häufig von mir gekauftes Produkt, das sowohl schmackhaft wie auch preisgünstig und einfach in der Zubereitung war. Dank der beigefügten Aluminiumschale musste man noch nicht einmal eine Pfanne schmutzig machen. Ofentür auf, zack rein, auf 180 Grad stellen und eine Stunde später konnte man das knusprige und vor sich hin blubbernde Fleisch auf einen Teller schieben. Aber bevor ich die Hähnchenpfanne in meinen Einkaufswagen legen konnte, preschte Jiminy Grille aus der Tiefe des Supermarkts heran und riss sie mir aus den Fingern. Jiminy Grille hieß eigentlich Kerstin und hatte vor einem halben Jahr ein Zimmer in meinem Haus in Brandenburg bezogen. Im Gegenzug durfte ich ihre Wohnung in Berlin-Kreuzberg mitbenutzen. Seitdem prallten zwei Welten aufeinander. Kerstin ernährte sich nämlich überwiegend vegetarisch und kaufte die meisten Lebensmittel in Bio-Läden ein. Und sie fühlte sich aufgerufen, meine Essgewohnheiten zu kommentieren.Deswegen nannte ich sie auch Jiminy Grille nach der Zeichentrickfigur aus der Disney-Verfilmung von Pinocchio. Als Pinocchio von einer Fee zum Leben erweckt wird, verfügt er vorerst nämlich noch nicht über ein Gewissen. Deswegen wird eine Grille abgestellt, um Pinocchio zu begleiten und ihm in Gewissensfragen tadelnd zur Seite zu stehen. Bei Disney trägt die Gewissens-Grille einen Zylinder, Gehrock, Weste, ein Hemd mit Vatermörderkragen, Kniehosen, Halstuch, Gamaschen und einen zusammengefalteten Regenschirm über dem Unterarm.
»Wie kannst du dieses Qualfleisch kaufen?«, schrie Jiminy jetzt. »Du weißt doch ganz genau, wie diese Hühner gehalten werden.«
Richtig. Irgendwo weit draußen an der Peripherie meines Bewusstseins wusste ich, dass die Bedingungen, unter denen dieses Huhn einmal gelebt hatte, wohl eher unerfreulich waren. Ich räumte es ein.
»Je günstiger der Preis, desto unerfreulicher die Bedingungen. So einfach ist die Rechnung«, sagte Jiminy, beugte sich über die Tiefkühltruhe und legte die Hähnchenpfanne ordentlich zurück. Sie zeigte auf das Preisschild, das außen an der Kühltruhe klebte.
»Und 2,99 Euro für ein ganzes Huhn lässt auf verbrecherische Grausamkeit schließen.«
Bilder aus Fernsehdokumentationen des ZDF -Spätprogramms flackerten vor meinem inneren Auge auf, Junghühner mit kahlen Hälsen, zu Tausenden auf engsten Raum gequetscht, Hühner mit teilamputierten Schnäbeln und gebrochenen Beinen, die auf einem kotverkrusteten Boden verreckten, während andere Hühner über sie hinwegtrampelten. Es kostete Willen und Überwindung, daran zu denken, was alles hatte geschehen müssen, bevor die anonyme Masse Fleisch inder Aluminiumschale lag. Es machte überhaupt keinen Spaß, daran zu denken – insbesondere auch deshalb nicht, weil mir am Ende dieser geistigen Anstrengung natürlich nichts anderes übrig blieb, als auf die Hähnchenpfanne zu verzichten.
Am frühen Nachmittag des Tages, an dem ich beschloss, ein besserer Mensch zu werden, saß ich vor dem Fernseher, aß ein fleischloses, zugegeben gar nicht mal so übles Currygericht, das Jiminy Grille für uns gekocht hatte, hörte mir ihre Vorhaltungen über meine Fernsehgewohnheiten an und fragte mich, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, ihr ein Zimmer zu überlassen. Neben dem Sessel lag mein krebskranker Bulldoggenhund Bulli und warf mir hin und wieder einen enttäuschten Blick zu. Normalerweise hätte er mir jetzt bei dem Verzehr der Hähnchenpfanne assistiert. Der NDR zeigte einen für das Mittagsprogramm der Vorweihnachtszeit typischen Einspieler über einen Gänsemäster aus Niedersachsen, der seine Gänse noch auf die gute alte Art hielt, also auf eine Wiese ließ. Im Fernseher war der Himmel frühlingshaft blau, ein Kirschbaum blühte und die Gänse watschelten eifrig schnatternd herum und bissen ins frische Gras. Darüber geriet die Moderatorin in helles Entzücken, und der Begriff glücklich – glückliche Gänse, glückliche Tiere, Fleisch von glücklichen Gänsen – fiel gleich dreimal.
»Wenn du zu Weihnachten wieder unbedingt eine Gans essen musst, kannst du dir ja so eine aus guter Haltung bestellen«,
Weitere Kostenlose Bücher