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Tagebücher: 1909-1923

Tagebücher: 1909-1923

Titel: Tagebücher: 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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Luft abgesonderten Menschengruppe, die mir in ihrer zeichnerischen Technik vollständig neu und einmal erfunden leicht ausführbar schien. Um einen Tisch war eine Gesellschaft versammelt, der Erdboden verlief etwas weiter als der Menschenkreis, von allen Leuten aber sah ich vorläufig mit einer großen Gewalt des Blickes nur einen jungen Mann in altertümlichem Kleid. Den linken Arm hatte er auf dem Tisch aufgestützt, die Hand hieng lose über seinem Gesicht, das spielerisch zu jemandem aufschaute, der sich besorgt oder fragend über ihn bückte. Sein Körper besonders das rechte Bein war mit nachlässiger Jugendlichkeit gestreckt, er lag mehr als er saß. Die zwei deutlichen Linienpaare, welche die Beine begrenzten, kreuzten und verbanden sich leicht zu den Grenzlinien des Körpers. Mit schwacher Körperlichkeit wölbten sich zwischen diesen Linien die bleich gefärbten Kleider. Vor Erstaunen über diese schöne Zeichnung die mir im Kopfe eine Spannung erzeugte, die meiner Überzeugung nach dieselbe undzwar dauernde Spannung war, von der, wann ich wollte, der Bleistift in der Hand geführt werden könnte, zwang ich mich aus dem dämmernden Zustand heraus, um die Zeichnung besser durchdenken zu können. Da fand sich allerdings bald, daß ich mir nichts anderes vorgestellt hatte, als eine kleine Gruppe aus grauweißem Porcellan.
    In Übergangszeiten, wie es für mich die letzte Woche und zumindest noch dieser Augenblick ist, erfaßt mich oft ein trauriges aber ruhiges Erstaunen über meine Gefühllosigkeit. Ich bin von allen Dingen durch einen hohlen Raum getrennt, an dessen Begrenzung ich mich nicht einmal dränge.
      Jetzt am Abend, wo mir die Gedanken freier zu werden anfangen und ich vielleicht zu einigem fähig wäre, muß ich ins Nationalteater zu “Hippodamie”, Uraufführung von Vrchlicky.

      Sicher ist, daß mir der Sonntag niemals mehr nützen kann, als der Wochentag, da er durch seine besondere Einteilung alle meine Gewohnheiten durcheinanderwirft und ich die überschüssige freie Zeit nötig habe, um mich in diesem besondern Tag halbwegs einzurichten.

      Meinem Verlangen eine Selbstbiographie zu schreiben, würde ich jedenfalls in dem Augenblick, der mich vom Bureau befreite, sofort nachkommen. Eine solche einschneidende Änderung müßte ich beim Beginn des Schreibens als vorläufiges Ziel vor mir haben, um die Masse der Geschehnisse lenken zu können. Eine andere erhebende Änderung aber als diese, die selbst so schrecklich unwahrscheinlich ist, kann ich nicht absehn. Dann aber wäre das Schreiben der Selbstbiographie eine große Freude, da es so leicht vor sich gienge, wie die Niederschrift von Träumen und doch ein ganz anderes, großes, mich für immer beeinflussendes Ergebnis hätte, das auch dem Verständnis und Gefühl eines jeden andern zugänglich wäre.

    18. XII 11 Vorgestern Hippodamie. Elendes Stück. Ein Herumirren in der griechischen Mythologie ohne Sinn und Grund. Aufsatz Kvapils auf dem Teaterzettel, der zwischen den Zeilen die während der ganzen Aufführung sichtbare Ansicht ausspricht, daß eine gute Regie (die hier aber nichts als Nachahmung Reinhardts war) eine schlechte Dichtung zu einem großen teatralischem Werk machen könne. Traurig muß das alles für einen nur etwas herumgekommenen Tschechen sein. – Der Statthalter, der aus seinem geöffneten Logentürchen in der Pause aus dem Gange Luft schnappte. – Die als Schattenbild citierte Erscheinung der toten Axiocha, die bald verschwindet, weil sie als eine erst vor Kurzem Verstorbene beim Anblick der Welt zu sehr ihr altes Menschenleid wieder empfindet.
      Max kam gestern aus Berlin. Im Berliner Tagblatt wurde er allerdings von einem Fackelmenschen selbstlos genannt, weil er den “weit bedeutenderen Werfel” vorgelesen hatte. Max mußte diesen Satz ausstreichen ehe er die Kritik zum Abdruck ins Prager Tagblatt trug. Ich hasse W., nicht weil ich ihn beneide, aber ich beneide ihn auch. Er ist gesund, jung und reich, ich in allem anders. Außerdem hat er früh und leicht mit musikalischem Sinn sehr Gutes geschrieben, das glücklichste Leben hat er hinter sich und vor sich, ich arbeite mit Gewichten, die ich nicht loswerden kann und von Musik bin ich ganz abgetrennt.
      Ich bin unpünktlich, weil ich die Schmerzen des Wartens nicht fühle. Ich warte wie ein Rind. Fühle ich nämlich einen wenn auch sehr unsichern Zweck meiner augenblicklichen Existenz bin ich in meiner Schwäche so eitel, daß ich um dieses einmal

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