Tagebücher 1909-1923
dem Geschäft doch nur ein 1/4
Jahr noch dauern könne, dann müsse doch alles gut werden. Er geht seufzend und den Kopf schüttelnd auf und ab. Es ist klar, daß von ihm aus gesehn, seine Sorgen durch uns nicht abgenommen und nicht einmal erleichtert werden, aber selbst von uns aus gesehn nicht, selbst in unserm besten Willen steckt etwas noch so traurige Überzeugung, daß er für seine Familie sorgen muß. – Später dachte ich, er liegt bei der Mutter, soll er
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sich doch an sie pressen, nahes verwandtes Fleisch muß beruhigen. – Durch sein häufiges Gähnen oder sein übrigens nicht unappetitliches In-die-Nase-greifen erzeugt der Vater eine kleine kaum zum Bewußtsein kommende Beruhigung über seinen Zustand, trotzdem er dies wenn er gesund ist im Allgemeinen nicht macht. Die Ottla hat es mir bestätigt. – Die arme Mutter will morgen zum Hausherrn bitten gehn.
26. Sept. 1911 Der Ze ichner Kubin empfiehlt als Abführmittel Regulin, eine zerstampfte Alge die im Darm aufquillt ihn zum Zittern bringt, also mechanisch wirkt zum Unterschied von der ungesunden chemischen Wirkung anderer Abführmittel, die bloß den Koth durchreißen ihn also an den Darmwänden hängen lassen. – Er ist mit Hamsun bei Langen zusammengekommen.
Er feixt grundlos. Während des Gespräches, ohne daß er es unterbrochen hätte, hob er seinen Fuß aufs Knie, nahm vom Tisch eine große Papierschere und schnitt rund herum die Fransen seiner Hose ab. Schäbig angezogen mit irgend einem wertvolleren Detail z. B. Krawatte. – Geschichten von einer Künstlerpension in München, wo Maler und Veterinärärzte wohnten (die Schule der letzternwar in der Nähe) und wo es so verlottert zugieng, daß die Fenster des gegenüberliegenden Hauses, von wo man eine gute Aussicht hatte vermietet wurden.
Um diese Zuseher zu befriedigen, sprang manchmal ein Pensionär auf das Fensterbrett und löffelte in Affenstellung seinen Suppentopf aus. – Ein Erzeuger falscher Altertümer, der die Verwitterung durch Schrotschüsse erzeugte und der von einem Tisch sagte: Jetzt müssen wir noch dreimal auf ihm Kaffee trinken, dann kann er ans Innsbrucker Museum weggeschickt werden. – Kubin selbst: sehr stark, aber etwas einförmig bewegtes
Gesicht, mit der gleichen
Muskelanspannung beschreibt er die verschiedensten Sachen.
Sieht verschieden alt, groß und stark aus, je nachdem er sitzt, aufsteht, bloßen Anzug oder Überzieher hat
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Do 27 IX 11 Gestern auf dem Wenzelsplatz 2 Mädchen begegnet, zu lange den Blick auf einer gehalten, während gerade die andere, wie sich zu spät zeigte, einen häuslich weichen braunen faltigen weiten vorn ein wenig offenen Mantel trug, zarten Hals und zarte Nase hatte. Das Haar war in einer schon vergessenen Weise schön. – Alter Mann mit locker hängenden Hosen auf dem Belvedere. Er pfeift; wenn ich ihn anschaue, hört er auf; schaue ich weg, fängt er wieder an; endlich pfeift er auch wenn ich ihn anschaue. – Der schöne große Knopf schön angebracht unten auf dem Ärmel eines Mädchenkleides. Das Kleid auch schön getragen über amerikanischen Stiefeln schwebend. Wie selten gelingt mir etwas Schönes und diesem unbeachteten Knopf und seiner unwissenden Schneiderin gelingts. – Die Erzählerin auf dem Weg zum Belvedere, deren lebhafte Augen unabhängig von den augenblicklichen Worten zufrieden ihre Geschichte bis an ihr Ende überblickten –
Mächtige halbe Halswendung eines starken Mädchens, 29. IX 11 Goethes Tagebücher: Ein Mensch, der kein Tagebuch hat, ist einem Tagebuch ge genüber in einer falschen Position. Wenn er z. B. in Goethes Tagebüchern liest "11. I 1797 den ganzen Tag zuhause mit verschiedenen Anordnungen beschäftigt" so scheint es ihm, er selbst hätte noch niemals an einem Tag so wenig gemacht. – Reisebeobachtungen Goethes anders als die heutigen, weil sie aus einer Postkutsche gemacht mit den langsamen Veränderungen des Geländes sich einfacher entwickeln und viel leichter selbst von demjenigen verfolgt werden können, der jene Gegenden nicht kennt. Ein ruhiges förmlich landschaftliches Denken tritt ein. Da die Gegend unbeschädigt in ihrem eingeborenen Charakter dem Insassen des Wagens sich darbietet und auch die Landstraßen das Land viel natürlicher schneiden als die Eisenbahnstrecken, zu denen sie vielleicht im gleichen Verhältnisse stehn wie Flüsse zu Kanälen, so braucht es auch beim Beschauer keine Gewalttätigkeiten und er kann ohne große
Mühe systematisch
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