Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
Holger Bloem beobachtete das Kranichpärchen durch das Teleobjektiv seiner analogen Canon. Ruhig hielt er das schwere Teleobjektiv mit dem Lederhandgriff.
Ein brütendes Graukranichpärchen im Uplengener Moor. Das ist eine ornithologische Sensation, dachte er und drückte auf den Auslöser.
Der Diafilm surrte in der Kamera.
Der große Vogel reckte den langen Hals und sah sich nervös um. Die federlose rote Kopfplatte schwoll an.
Holger Bloem war noch gut hundertfünfzig Meter von den Tieren entfernt. Er fragte sich, ob sie das Geräusch gehört hatten. Einerseits war er froh, diese Bilder mit seiner alten Kamera schießen zu können, andererseits war das nicht ganz lautlos.
Er konnte Männchen und Weibchen nicht voneinander unterscheiden. Beide Tiere bauten am Nest und, wenn er sich in den letzten Stunden nicht getäuscht hatte, brüteten sie auch abwechselnd.
Ein Schwarm Schnepfenvögel rauschte vom Ufer des Lengener Meeres ins Wasser. Es kam ihm so vor, als ob die Tiere mit den langen Schnäbeln vor etwas fliehen würden. Aber er ließ sich nicht ablenken und konzentrierte sich auf die Kraniche, die sich jetzt gegenseitig die Federn putzten.
Holger Bloem hatte ein paar hervorragende Aufnahmen gemacht. Er stellte sich bereits vor, wie sie im »Ostfriesland-Magazin« wirken würden, und fragte sich, ob er schreiben sollte, wo genau er die Tiere beobachtet hatte. Oder musste er befürchten, damit einen Besucherstrom auszulösen, der die scheuen Vögel vertreiben würde?
Er suchte nach dem ersten Satz.
In vielen Kulturen galten Kraniche als Botschafter des Friedens und des Glücks.
Wieder reckte ein Tier den Kopf hoch, und Holger Bloem fühlte sich von den roten Augen geradezu erwischt. Es war ein zorniger, stechender Blick, der gar nicht zu dem anmutigen Vogel passte, der sich so liebevoll um seine Brut kümmerte.
Ich werde eine ganze Serie über Moore in Ostfriesland schreiben, dachte er. Allein dieser Hochmoorsee hier ist eine eigene Reportage wert. Ein Vogelparadies.
Er versuchte jetzt, geräuschlos in eine erhöhte Position zu kommen. Ohne die Tiere aufzuschrecken, wollte er einen Blick in ihr Nest ermöglichen. Da war Gestrüpp im Weg, das vor dem Nest aus dem Wasser ragte.
Bloem veränderte den Blickwinkel, aber immer waren diese blöden Äste vor den Kranichen im Bild.
Ganz so, als wollte er sich auf dem Foto nicht verdecken lassen, pickte ein Kranich jetzt nach einem der Äste und zerrte ihn aus dem Wasser.
Braves Tier, dachte Holger Bloem und fotografierte. Doch der Kranich zog mit dem Ast noch mehr hoch. Da hing etwas dran. Es war schwer.
Holger Bloem nahm ein paar Schnappschüsse mit, dann lief ihm ein Schauer über den Rücken.
Es musste ein Irrtum sein. Eine Spiegelung des Wassers. Eine optische Täuschung.
Der Vogel zerrte zweimal voller Wut, dann ließ er den Ast ins Meer zurückplatschen und Holger Bloem blieb mit dem Gefühl zurück, eine menschliche Hand gesehen zu haben und einen Arm bis zum Ellenbogen.
Jetzt bereute er, die Szene nicht mit seiner Digitalkamera fotografiert zu haben. Dann hätte er sich einfach das letzte Bild im Display anschauen können. Aber so musste erst ein Diafilm entwickelt werden.
Er zögerte. Sollte er warten, ob der Vogel sein Glück noch einmal versuchen würde?
Es war Wasser in Holger Bloems Schuhe gekommen. Er überlegte die nächsten Schritte. Er konnte jetzt schlecht in die Redaktion nach Norden zurückfahren. Dort konnten zwar Schwarzweißfilme rasch entwickelt werden, aber die Diafilme erforderten mehr Aufwand und wurden normalerweise zu CEWE-Color nach Oldenburg geschickt. Das war nur ein Katzensprung von hier aus, wenn er Gas gab, keine fünfzehn Minuten.
Er pirschte rückwärts. Noch im Auto fragte er sich: Habe ich eine Moorleiche entdeckt oder nur eine seltsam geformte Astgabel gesehen?
Über ihm verdeckte eine Wolke die Sonne. Sie sah aus wie ein lachendes Kindergesicht mit aufgeblähten Wangen.
Manchmal, dachte Holger Bloem, treibt die Natur Späße mit uns. Aber das flaue Gefühl im Magen sagte ihm, dass er es hier nicht mit einem solchen Schabernack der Natur zu tun hatte, sondern am Beginn einer grausamen, nur zu realen Entdeckung stand.
Ann Kathrin Klaasen saß in Aggis Huus in Neßmersiel auf dem Sofa. Sie hatte sich mächtig über den Zaun geärgert, mit dem der freie Zugang zum Meer versperrt worden war. Sie wollte keinen Eintritt bezahlen, um an der Nordsee zu stehen, aber es ging ihr nicht so sehr ums Geld, sondern niemand
Weitere Kostenlose Bücher