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Tagebücher 1909-1923

Tagebücher 1909-1923

Titel: Tagebücher 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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seiner Richtung bemerkt hat, allerdings spürt er vorläufig gar nichts davon. Er wird bald heiraten.
    Safranski, Schüler Bernhards, macht während des Zeichnens und Beobachtens Grimassen, die mit dem Gezeichneten in Verbindung stehn. Erinnert mich daran, daß ich für meinen Teil eine starke Verwandlungsfähigkeit habe, die niemand bemerkt.
    Wie oft mußte ich Max nachmachen. Gestern abend auf dem Nachhauseweg hätte ich mich als Zuschauer mit Tucholski verwechseln können. Das fremde Wesen muß dann in mir so deutlich und unsichtbar sein, wie das Versteckte in einem Vexierbild, in dem man auch niemals etwas finden würde, wenn man nicht wüßte daß es drin steckt. Bei diesen Verwandlungen möchte ich besonders gern an ein Sichtrüben der eigenen Augen glauben.
    1. Oktober Mo (Sonntag 1911) Altneusynagoge gestern.
    Kolnidre. Gedämpftes Börsengemurmel. Im Vorraum Büchse mit der Aufschrift: "Milde Gaben im Stillen, besänftigen den Unwillen. " Kirchenmäßiges Innere. Drei fromme offenbar östliche Juden. In Socken. Über das Gebetbuch gebeugt, den Gebetmantel über den Kopf gezogen, möglichst klein geworden.
    Zwei weinen, nur vom Feiertag gerührt? Einer hat vielleicht nur wehe Augen, an die er das noch gefaltete Sacktuch flüchtig legt, um das Gesicht gleich wieder nahe an den Text zu halten. Nicht eigentlich oder hauptsächlich wird das Wort gesungen, aber hinter dem Wort her werden Arabesken gezogen aus dem
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    haardünn weitergesponnenem Wort. Der kleine Junge, der ohne die geringste Vorstellung des Ganzen und ohne
    Orientierungsmöglichkeit, den Lärm in den Ohren, sich zwischen den gedrängten Leuten hinschiebt und geschoben wird. Der scheinbare Commis, der sich beim Beten rasch schüttelt, was nur als Versuch einer möglichst starken, wenn auch vielleicht unverständigen Betonung jedes Wortes zu verstehen ist, wobei die Stimme geschont wird, die überdies in dem Lärm eine klare große Betonung nicht zustande brächte.
    Die Familie des Bordellbesitzers. In der Pinkassynagoge war ich unvergleichlich stärker vom Judentum hergenommen.
    Im B. Suha vorvorgestern. Die eine Jüdin mit schmalem Gesicht, besser das in ein schmales Kinn verläuft, aber von einer ausgedehnt welligen Frisur ins Breite geschüttelt wird. Die drei kleinen Türen, die aus dem Innern des Gebäudes in den Salon führen. Die Gäste wie in einer Wachstube auf der Bühne, Getränke auf dem Tisch, werden ja kaum angerührt. Die Flachgesichtige im eckigen Kleid, das erst tief unten in einem Saum sich zu bewegen anfängt. Einige hier und früher angezogen wie die Marionetten für Kinderteater, wie man sie auf dem Christmarkt verkauft d. h. mit Rüschen und Gold beklebt und lose benäht, so daß man sie mit einem Zug abtrennen kann und daß sie einem dann in den Fingern zerfallen.
    Die Wirtin mit dem mattblonden über zweifellos ekelhaften Unterlagen straff
    gezogenem Haar, mit der scharf
    niedergehenden Nase, deren Richtung in
    irgendeiner
    geometrischen Beziehung zu den hängenden Brüsten und dem steif gehaltenen Bauch steht, klagt über Kopfschmerzen, die dadurch verursacht sind, daß heute Samstag ein so großer Rummel und nichts daran ist.
    zu Kubin: Die Geschichte von Hamsun ist verdächtig. Solche Geschichten könnte man aus seinen Werken zu Tausenden als erlebt erzählen.
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    zu Goethe: "Erregte Ideen" sind bloß die Ideen, die der Rheinfall erregt. Man sieht das aus einem Brief an Schiller. –
    Die vereinzelte Augenblicksbeobachtung "Kastagnettenrythmus der Kinder in Holzschuhen" hat eine solche Wirkung gemacht, ist so allgemein angenommen, daß es undenkbar ist, daß jemand, wenn er auch diese Bemerkung niemals gelesen hätte, diese Beobachtung als eigene Originalidee fühlen könnte.
    2 Oktober (1911) Schlaflose Nacht. Schon die dritte in einer Reihe. Ich schlafe gut ein, nach einer Stunde aber wache ich auf, als hätte ich den Kopf in ein falsches Loch gelegt. Ich bin vollständig wach, habe das Gefühl gar nicht oder nur unter einer dünnen Haut geschlafen zu haben, habe die Arbeit des Einschlafens von neuem vor mir und fühle mich vom Schlaf zurückgewiesen. Und von jetzt an bleibt es die ganze Nacht bis gegen 5 so, daß ich zwar schlafe daß aber starke Träume mich gleichzeitig wach halten. Neben mir schlafe ich förmlich, während ich selbst mit Träumen mich herumschlagen muß.
    Gegen 5 ist die letzte Spur von Schlaf verbraucht, ich träume nur, was anstrengender ist als Wachen. Kurz ich verbringe die ganze Nacht in

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