Tagebücher 1909-1923
als ein halbwegs aufrechter Mensch. Nur weiß ich nicht, ob ich das will.
Margarethe Bloch, Ehrenstein
Wir wollten den Eltern nichts davon sagen, aber jeden Abend nach 9 Uhr versammelten wir uns ich und zwei Vettern am Friedhofsgitter an einer Stelle, wo eine kleine Erderhöhung einen guten Überblick ermöglichte.
Das Eisengitter des Friedhofs läßt links einen großen grasbewachsenen Platz frei.
Friedrich: Ich hab’s satt.
Wilhelm:
17 November 13
Traum: Auf einem ansteigenden Weg lag etwa in der Mitte der Steigung undzwar hauptsächlich in der Fahrbahn von unten gesehn links beginnend Unrat oder festgewordener Lehm, der gegen rechts hin durch Abbröckelung immer niedriger geworden war, während er links hoch wie Palissaden eines Zaunes stand.
Ich gieng rechts wo der Weg fast frei war und sah auf einem Dreirad einen Mann von unten mir entgegenkommen und scheinbar geradewegs gegen das Hindernis fahren. Es war ein Mann wie ohne Augen zumindest sahen seine Augen wie verwischte Löcher aus. Das Dreirad war wackelig, fuhr zwar entsprechend unsicher und gelockert, aber doch geräuschlos, fast übertrieben still und leicht. Ich faßte den Mann im letzten Augenblick, hielt ihn als wäre er die Handhabe seines Fahrzeugs und lenkte dieses in die Bresche durch die ich gekommen war.
Da fiel er gegen mich hin, ich war nun riesengroß und hielt ihn
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doch nur in einer gezwungenen Haltung, zudem begann das Fahrzeug als sei es nun herrenlos zurückzufahren, wenn auch langsam und zog mich mit. Wir kamen an einem Leiterwagen vorüber auf dem einige Leute gedrängt standen, alle dunkel gekleidet, unter ihnen war ein Pfadfinderjunge mit hellgrauem aufgekrempelten Hut. Von diesem Jungen, den ich schon aus einiger Entfernung erkannt hatte, erwartete ich Hilfe, aber er wendete sich ab und drückte sich zwischen die Leute. Dann kam hinter diesem Leiterwagen – das Dreirad rollte immer weiter und ich mußte tief hinabgebückt mit gespreizten Beinen nach –
jemand mir entgegen, der mir Hilfe brachte, an den ich mich aber nicht erinnern kann. Nur das weiß ich, daß es ein vertrauenswürdiger Mensch war, der sich jetzt wie hinter einem schwarzen ausgespannten Stoff
verbirgt und dessen
Verborgensein ich achten soll.
18 (November 1913) Ich werde wieder schreiben, aber wie viele Zweifel habe ich inzwischen an meinem Schreiben gehabt.
Im Grunde bin ich ein unfähiger unwissender Mensch, der wenn er nicht gezwungen, ohne jedes eigene Verdienst, den Zwang kaum merkend, in die Schule gegangen wäre, gerade imstande wäre in einer Hundehütte zu hocken, hinauszuspringen, wenn ihm Fraß gereicht wird und zurückzuspringen, wenn er es verschlungen hat.
Zwei Hunde liefen auf einem stark von der Sonne
beschienenen Hof aus
entgegengesetzten Richtungen
gegeneinander.
18. (November 1913) Den Anfang eines Briefes an Frl. Bloch mir abgequält.
19 (November 1913)
Mich ergreift das Lesen des Tagebuchs. Ist der Grund dessen, daß ich in der Gegenwart jetzt nicht die geringste Sicherheit mehr habe. Alles erscheint mir als Konstruktion. Jede Bemerkung eines andern, jeder zufällige Anblick wälzt alles in
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mir, selbst Vergessenes, ganz und gar Unbedeutendes, auf eine andere Seite. Ich bin unsicherer als ich jemals war, nur die Gewalt des Lebens fühle ich. Und sinnlos leer bin ich. Ich bin wirklich wie ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft. So verloren zu sein und nicht die Kraft haben, es zu beklagen.
Ich gehe absichtlich durch die Gassen, wo Dirnen sind. Das Vorübergehn an ihnen reizt mich, diese ferne aber immerhin bestehende Möglichkeit mit einer zu gehn. Ist das Gemeinheit?
Ich weiß aber nichts besseres und das Ausführen dessen scheint mir im Grunde unschuldig und macht mir fast keine Reue. Ich will nur die dicken ältern, mit veralteten aber gewissermaßen durch verschiedene Behänge üppigen Kleidern. Eine Frau kennt mich wahrscheinlich schon. Ich traf sie heute nachmittag, sie war noch nicht in Berufskleidung, die Haare lagen noch am Kopf an, sie hatte keinen Hut, eine Arbeitsbluse wie Köchinnen und trug irgendeinen Ballen vielleicht zur Wäscherin. Kein Mensch hätte etwas Reizendes an ihr gefunden, nur ich. Wir sahen einander flüchtig an. Jetzt abend, es ist inzwischen kalt geworden, sah ich sie in einem anliegenden, gelblich braunen Mantel auf der andern Seite der engen von der Zeltnergasse abzweigenden Gasse,, wo sie ihre Promenade hat. Ich sah
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