Tagebücher 1909-1923
abhängig (ich mehr) mit dem Vater verfeindet, von der Mutter geliebt (er noch zu dem schrecklichen Zusammenleben mit dem Vater verurteilt, freilich auch der Vater verurteilt) beide schüchtern überbescheiden (er mehr) beide als edle gute Menschen angesehn wovon bei mir nichts und meines Wissens auch bei ihm nicht viel zu finden war (Schüchternheit, Bescheidenheit, Ängstlichkeit gilt als edel und gut, weil sie den eigenen expansiven Trieben wenig Widerstand entgegensetzt) beide zuerst hypochondrisch, dann wirklich krank, beide als Nichtstuer von der Welt ziemlich gut erhalten (er, weil er ein kleinerer Nichtstuer war, viel schlechter erhalten, soweit man bis jetzt vergleichen kann) beide Beamte (er ein besserer) beide allereinförmigst lebend ohne Entwicklung jung bis zum Ende, richtiger als jung ist der Ausdruck konserviert, beide nahe am Irrsinn, er, fern von Juden, mit ungeheuerem Mut, mit ungeheuerer Sprungkraft (an der man die Größe der Irrsinnsgefahr ermessen kann) in der Kirche gerettet, bis zum Ende noch, soweit man sehen konnte, lose gehalten, er selbst hielt sich wohl schon Jahre lang nicht. Ein Unterschied zu seinen Gunsten oder Ungunsten war, daß er eine kleinere künstlerische Begabung hatte als ich, also in der Jugend einen bessern Weg hätte wählen können, nicht so zerrissen war, auch durch Ehrgeiz nicht. Ob er um Frauen (mit sich) gekämpft hat, weiß ich nicht, eine Geschichte die ich von ihm gelesen habe, deutete daraufhin, auch erzählte man, als ich ein Kind war, etwas dergleichen. Ich weiß viel zu wenig von ihm, danach zu fragen wage ich nicht. Übrigens schrieb ich bis hierher leichtsinnig über ihn wie ber einen Lebenden. Es ist auch unwahr, daß er nicht gut war, ich habe an ihm keine Spur von
-550-
Geiz, Neid, Haß, Gier bemerkt; um selbst helfen zu können, war er wahrscheinlich zu gering. Er war unendlich viel unschuldiger als ich, hier gibt es keinen Vergleich. Er war in Einzelnheiten eine Karrikatur von mir, im Wesentlichen aber bin ich seine Karrikatur.
23. (Januar 1922) Wieder kam Unruhe. Woher?Aus
bestimmten Gedanken, die schnell vergessen werden, aber die Unruhe unvergeßlich hinterlassen. Eher als die Gedanken könnte ich den Ort angeben, wo sie kamen, einer z. B. auf dem kleinen Rasenweg, der an der Altneusynagoge vorüberfährt.
Auch Unruhe aus einem gewissen Wohlbehagen, das hie und da scheu und fern genug sich näherte. Unruhe auch daraus, daß der nächtliche Entschluß nur Entschluß bleibt. Unruhe daraus, daß mein Leben bisher ein stehendes Marschieren war, eine Entwicklung höchstens in dem Sinn, wie sie ein hohlwerdender, verfallender Zahn durchmacht. Es war nicht die geringste sich irgendwie bewährende Lebensführung von meiner Seite da. Es war so als wäre mir wie jedem andern Menschen der
Kreismittelpunkt gegeben, als hätte ich dann wie jeder andere Mensch den entscheidenden Radius zu gehn und dann den schönen Kreis zu ziehn. Statt dessen habe ich immerfort einen Anlauf zum Radius genommen, aber immer wieder gleich ihn abbrechen müssen (Beispiele: Klavier, Violine, Sprachen, Germanistik, Antizionismus, Zionismus, Hebräisch, Gärtnerei, Tischlerei, Litteratur, Heiratsversuche, eigene Wohnung) Es starrt im Mittelpunkt des imaginären Kreises von beginnenden Radien, es ist kein Platz mehr für einen neuen Versuch, kein Platz heißt Alter, Nervenschwäche, und kein Versuch mehr bedeutet Ende. Habe ich einmal den Radius ein Stückchen weitergeführt als sonst, etwa bei Jusstudium oder bei den Verlobungen, war alles eben um dieses Stück ärger, statt besser.
Habe M. von der Nacht erzählt, ungenügend. Symptome nimm hin, klage nicht ber Symptome, steige in das Leiden hinab.
-551-
Herzunruhe
Die andere Ansicht: aufgespart. Die dritte Ansicht: schon vergessen.
24 (Januar 1922) Das Glück der jungen und alten Ehemänner im Bureau. Mir unzugänglich und wenn es mir zugänglich wäre mir unerträglich und doch das einzige, an dem mich zu sättigen ich Anlage habe.
Vorschlag für E. P.
Das Zögern vor der Geburt. Gibt es eine Seelenwanderung, dann bin ich noch nicht auf der untersten Stufe. Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt.
Standfestigkeit. Ich will mich nicht auf bestimmte Weise entwickeln, ich will auf einen andern Platz, das ist in Wahrheit jenes "Nach-einem-andern-Stern- wollen", es würde mir genügen knapp neben mir zu stehn, es würde mir genügen den Platz auf dem ich stehe als einen andern erfassen zu können Die Entwicklung war
Weitere Kostenlose Bücher