Tagebücher 1909-1923
großen Steinen des Gesetzes versickert.
Das unendliche tiefe warme erlösende Glück neben dem Korb seines Kindes zu sitzen der Mutter gegenüber.
Es ist auch etwas darin von dem Gefühl: es kommt nicht mehr auf Dich an, es sei denn daß Du es willst. Dagegen das Gefühl des Kinderlosen: immerfort kommt es auf Dich an ob Du willst oder nicht, jeden Augenblick bis zum Ende, jeden
nervenzerrenden Augenblick, immerfort kommt es auf Dich an und ohne Ergebnis. Sisyphus war ein Junggeselle.
Nichts Böses; hast Du die Schwelle überschritten, ist alles gut.
Eine andere Welt und Du mußt nicht reden.
-547-
Die zwei Fragen:
Ich hatte aus einigen Kleinigkeiten, die anzuführen ich mich schäme, den Eindruck, daß die letzten Besuche zwar lieb und stolz wie immer waren, aber doch auch etwas müde, etwas gezwungen, wie Krankenbesuche. Ist der Eindruck richtig?
Hast Du in den Tagebüchern etwas Entscheidendes gegen mich gefunden?
20 (Januar 1922) Ein wenig stiller. Wie notwendig war es.
Kaum ist es ein wenig stiller, ist es fast zu still. Als bekäme ich das wahre Gefühl meiner Selbst nur wenn ich unerträglich unglücklich bin. Das ist wohl auch richtig.
Beim Kragen gepackt, durch die Straßen gezerrt, in die Tür hineingestoßen. Schematisch ist es so, in Wirklichkeit sind Gegenkräfte da, nur um eine Kleinigkeit – die leben- und qualerhaltende Kleinigkeit – weniger wild als jene. Ich der beiden Opfer.
Dieses "zustill". So als wäre mir – irgendwie körperlich, körperlich als Ergebnis der jahrelangen Qualen (Vertrauen!
Vertrauen!) – die Möglichkeit des ruhig schaffenden Lebens verschlossen, also das schaffende Leben überhaupt, denn der Zustand der Qual ist für mich ohne Rest nichts anders als in sich verschlossene, gegen alles verschlossene Qual, nichts darüber hinaus.
Das Torso: seitlich gesehn vom obern Rand des Strumpfes aufwärts Knie, Oberschenkel und Hüfte, einer dunklen Frau gehörig.
Die Sehnsucht nach dem Land? Es ist nicht gewiß. Das Land schlägt die Sehnsucht an, die unendliche.
M. hat hinsichtlich meiner recht: "alles herrlich nur nicht für mich und mit Recht. " Mit Recht sage ich und zeige daß ich wenigstens dieses Vertrauen habe: Oder habe ich nicht einmal das? Denn ich denke nicht eigentlich an "Recht", das Leben hat vor lauter Überzeugungskraft keinen Platz in sich für Recht und
-548-
Unrecht. So wie Du in der verzweifelten Sterbestunde nicht über Recht und Unrecht meditieren kannst, so nicht im verzweifelten Leben. Es genügt daß die Pfeile genau in die Wunden passen, die sie geschlagen haben.
Dagegen ist von einem allgemeinen Aburteil über die Generation bei mir keine Spur.
21 (Januar 1922) Es ist noch nicht zu still. Plötzlich im Teater angesichts des Gefängnisses Florestans öffnet sich der Abgrund.
Alles, Sänger, Musik, Publikum, Nachbarn, alles ferner als der Abgrund.
So schwer war die Aufgabe niemandes, soviel ich weiß. Man könnte sagen: es ist keine Aufgabe, nicht einmal eine unmögliche, es ist nicht einmal die Unmöglichkeit selbst, es ist nichts, es ist nicht einmal soviel Kind, wie die Hoffnung einer Unfruchtbaren. Es ist aber doch die Luft, in der ich atme, solange ich atmen soll.
Ich schlief nach Mitternacht ein, erwachte um 5, eine außergewöhnliche Leistung,
außergewöhnliches Glück,
außerdem war ich noch schläfrig. Das Glück war aber mein Unglück, denn nun kam der nicht abzuwehrende Gedanke: soviel Glück verdienst Du nicht, alle Götter der Rache stürzten auf mich herab, ich sah ihren wütenden Obersten die Finger wild spreizen und mir drohen oder fürchterlich Cymbel schlagen. Die Aufregung der 2 Stunden bis 7 Uhr verzehrte nicht nur den Schlafgewinn, sondern machte mich den ganzen Tag über zittrig und unruhig.
Ohne Vorfahren, ohne Ehe, ohne Nachkommen, mit wilder Vorfahrens-, Ehe- und Nachkommenslust. Alle reichen mir die Hand: Vorfahren, Ehe und Nachkommen, aber zu fern für mich.
Für alles gibt es künstlichen, jämmerlichen Ersatz: für Vorfahren, Ehe und Nachkommen. In Krämpfen schafft man ihn und geht, wenn man nicht schon an den Krämpfen zugrunde gegangen ist, an der Trostlosigkeit des Ersatzes zugrunde
-549-
22 (Januar 1922) Nächtlicher Entschluß
Die Bemerkung hinsichtlich der "Junggesellen der Erinnerung" war hellseherisch, allerdings Hellseherei unter sehr günstigen Voraussetzungen. Die Ähnlichkeit mit O. R. ist aber noch darüber hinaus verblüffend: beide still (ich weniger) beide von den Eltern
Weitere Kostenlose Bücher