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Tagebücher 1909-1923

Tagebücher 1909-1923

Titel: Tagebücher 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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nachgeahmten talmudischen Weise über Gott und seine Möglichkeit disputierte. Ich knüpfte damals gern an das in einer christlichen Zeitschrift – ich glaube "die christliche Welt" – gefundene Thema an, in welchem eine Uhr und die Welt und der Uhrmacher und Gott einander
    gegenübergestellt waren und die Existenz des Uhrmachers jene Gottes beweisen sollte. Das konnte ich meiner Meinung nach sehr gut dem Bergmann gegenüber widerlegen wenn auch diese Widerlegung in mir nicht fest begründet war und ich mir sie für den Gebrauch erst wie ein Geduldspiel zusammensetzen mußte.
    Eine solche Widerlegung fand einmal statt, als wir den Rathausturm umgiengen. Daran erinnere ich mich deshalb genau, weil wir einander einmal vor Jahren daran erinnert haben. – Während ich mich aber darin auszuzeichnen glaubte –
    anderes als das Verlangen mich auszuzeichnen und die Freude am Wirken und an der Wirkung brachte mich nicht dazu –
    duldete ich es nur infolge nicht genügend starken Nachdenkens, daß ich immer in schlechten Kleidern herumgieng, die mir meine Eltern abwechselnd von einzelnen Kundschaften, am längsten von einem Schneider in Nusle machen ließen. Ich merkte natürlich, was sehr leicht war, daß ich besonders schlecht
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    angezogen gieng und hatte auch ein Auge dafür wenn andere gut angezogen waren, nur brachte es mein Denken durch Jahre hin nicht fertig die Ursache meines jämmerlichen Aussehns in meinen Kleidern zu finden. Da ich schon damals mehr in Ahnungen als in Wirklichkeit auf dem Wege war, mich geringzuschätzen, war ich überzeugt, daß die Kleider nur an mir dieses zuerst bretterartig steife dann faltighängende Aussehen annehmen. Neue Kleider wollte ich gar nicht, denn wenn ich schon häßlich aussehn sollte, wollte ich es wenigstens bequem haben und außerdem vermeiden, der Welt, die sich an die alten Kleider gewöhnt hatte, die Häßlichkeit der neuen vorzuführen.
    Diese immer lang dauernden Weigerungen meiner Mutter gegenüber, die mir öfters neue Kleider dieser Art machen lassen wollte, da sie mit den Augen des erwachsenen Menschen immerhin Unterschiede zwischen diesen neuen und alten Kleidern finden konnte, wirkten insoferne auf mich zurück, als ich mir unter Bestätigung meiner Eltern einbilden mußte, daß mir an meinem Aussehen nichts lag.
    2 I 11 (1912) Infolgedessen gab ich den schlechten Kleidern auch in meiner Haltung nach, gieng mit gebeugtem Rücken, schiefen Schultern, verlegenen Armen und Händen herum; fürchtete mich vor Spiegeln, weil sie mich in einer meiner Meinung nach unvermeidlichen Häßlichkeit zeigten, die überdies nicht ganz wahrheitsgemäß abgespiegelt sein konnte, denn hätte ich wirklich so ausgesehn, hätte ich auch größeres Aufsehen erregen müssen, erduldete auf Sonntagspaziergängen von der Mutter sanfte Stöße in den Rücken und viel zu abstrakte Ermahnungen und Prophezeiunge n, die ich mit meinen damaligen gegenwärtigen Sorgen in keine Beziehung bringen konnte. Überhaupt fehlte es mir hauptsächlich an der Fähigkeit, für die tatsächliche Zukunft auch nur im Geringsten vorzusorgen. Ich blieb mit meinem Denken bei den
    gegenwärtigen Dingen und ihren gegenwärtigen Zuständen nicht aus Gründlichkeit oder zu sehr festgehaltenem Interesse,
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    sondern, soweit es nicht Schwäche des Denkens verursachte, aus Traurigkeit und Furcht, aus Traurigkeit, denn weil mir die Gegenwart so traurig war, glaubte ich sie nicht verlassen zu dürfen, ehe sie sich ins Glück auflöste, aus Furcht, denn wie ich mich vor dem kleinsten gegenwärtigen Schritt fürchtete, hielt ich mich auch für unwürdig, bei meinem verächtlichen kindischen Auftreten ernstlich mit Verant wortung die große männliche Zukunft zu beurteilen, die mir auch meistens so unmöglich vorgekommen ist, daß mir jedes kleine Fortschreiten wie eine Fälschung erschien und das Nächste unerreichbar.
    Wunder gab ich leichter zu als wirklichen Fortschritt, war aber zu kühl, um nicht die Wunder in ihrer Sphäre zu lassen und den wirklichen Fortschritt in der seinen. Ich konnte daher lange Zeit vor dem Einschlafen mich damit abgeben, daß ich einmal als reicher Mann in vierspännigem Wagen in der Judenstadt einfahren ein mit Unrecht geprügeltes schönes Mädchen mit einem Machtwort befreien und in meinem Wagen fortführen werde; unberührt aber von diesem spielerischen Glauben, der sich wahrscheinlich nur von einer schon ungesunden Sexualität nährte, blieb die Überzeugung, daß ich die

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