Tagebücher 1909-1923
Schreiben geworden ist) Nicht daß ich berzeugt wäre, daß ich im Vorlesen etwas Bedeutendes erreichen würde, vielmehr beherrscht mich nur die Sucht, mich an die guten Arbeiten, die ich vorlese, so sehr heranzudrängen, daß ich mit ihnen nicht durch mein Verdienst, sondern nur in der durch das Vorgelesene aufgeregten und für das Unwesentliche getrübten
Aufmerksamkeit meiner zuhörenden Schwestern in eins verfließe und deshalb auch unter der vertuschenden Wirkung der Eitelkeit als Ursache an allem Einfluß teilnehme, welchen das Werk selbst geübt hat. Deshalb lese ich auch vor meinen Schwestern tatsächlich bewundernswert, erfülle manche Betonungen mit einer meinem Gefühl nach äußersten Genauigkeit, weil ich nachher nicht nur von mir sondern auch von meinen Schwestern im Übermaß belohnt werde. Lese ich aber vor Brod oder Baum oder andern, muß jedem mein Lesen schon infolge meiner Ansprüche auf Lob entsetzlich schlecht vorkommen, selbst wenn er von der Güte meines sonstigen Vorlesens nichts weiß, denn hier sehe ich daß der Zuhörer die Sonderung zwischen mir und dem Gelesenen aufrecht erhält, ich darf mich mit dem Gelesenen nicht gänzlich verbinden ohne meinem Gefühl nach, das keine Unterstützung vom Zuhörer zu erwarten hat, lächerlich zu werden, ich umfliege das Vorzulesende mit der Stimme, versuche, weil man es will, hie und da einzudringen, beabsichtige es aber nicht ernstlich, weil man es von mir gar nicht erwartet: das was man aber eigentlich will, ohne Eitelkeit ruhig und entfernt zu lesen und leidenschaftlich nur zu werden, wenn es meine Leidenschaft verlangt, das kann ich nicht leisten; trotzdem ich mich aber damit abgefunden zu haben glaube und mich also damit begnüge vor andern als vor meinen Schwestern schlecht vorzulesen, zeigt
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sich meine Eitelkeit, die diesmal kein Recht haben sollte, doch, indem ich mich gekränkt fühle, wenn jemand in dem
Vorgelesenen etwas aussetzt, rot werde und rasch weiterlesen will, wie ich überhaupt, wenn ich einmal zu lesen angefangen habe, danach strebe, endlos vorzulesen in der unbewußten Sehnsucht daß im Verlauf des langen Lesens, zumindest in mir das eitle falsche Gefühl der Einheit mit dem Vorgelesenen sich erzeugen wird, wobei ich vergesse, daß ich niemals die genügende augenblickliche Kraft haben werde, aus meinem Gefühl auf den klaren Überblick des Zuhörers einzuwirken und daß es zuhause immer die Schwestern sind, welche mit der erwünschten Verwechslung beginnen
5. I 11 (1912) Seit 2 Tagen konstatiere ich in mir Kühle und Gleichgültigkeit
wann ich will. Gestern abend beim
Spazierengehn war mir jedes kleine Straßengeräusch, jeder auf mich gerichtete Blick, jede Photographie in einem
Auslagskasten wichtiger als ich.
Die Einförmigkeit. Geschichte
Wenn man sich am abend endgiltig entschlossen zu haben scheint, zuhausezubleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim beleuchteten Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsmäßig schlafen geht, wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist, das das Zuhausebleiben
selbstverständlich macht, wenn man jetzt auch schon so lange bei Tisch still gehalten hat, daß das Weggehn nicht nur väterlichen Ärger sondern allgemeines Staunen hervorrufen müßte, wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor gesperrt ist und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen erscheint, weggehn zu müssen erklärt, es nach kurzem Abschied auch tut, je nach der Schnelligkeit mit der man die Wohnungstüre zuschlägt und damit die allgemeine Besprechung des Fortgehns abschneidet, mehr oder weniger
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Arger zu hinterlassen glaubt, wenn man sich auf der Gasse wiederfindet mit Gliedern, die diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit belohnen, wenn man durch diesen einen Entschluß alle Entschlußfähigkeit in sich aufgeregt fühlt, wenn man mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung erkennt, daß man mehr Kraft als Bedürfnis hat, die schnellsten Veränderungen leicht zu bewirken und zu ertragen, daß man mit sich allein gelassen in Verstand und Ruhe und in deren Genusse wächst, dann ist man für diesen Abend so gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, wie man es durchdringender durch die entferntesten Reisen nicht erreichen könnte und man hat ein Erlebnis gehabt, das man wegen
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