Tagebücher der Henker von Paris
zwölf Tagen zurück.
Sobald er am Horizonte den Glockenturm erblickte, der in den Strahlen der untergehenden Sonne glänzte, und das rote Ziegeldach, aus dem er sich erhob, stieg er vom Pferde und warf sich auf die Knie.
Er wollte beten, aber er fand kein Wort, um Gott zu danken.
Sein Herz schlug mit solcher Heftigkeit, daß er glaubte, es werde ihm die Brust sprengen, ehe er die wenigen Schritte zurückgelegt hätte, die ihn noch von Colombe trennten.
Als er um eine Straßenecke bog, sah er das Haus Pierre Brossiers mit seinem spitzen Dache, seinen gotischen Fenstern und seiner weißen, von schwarzen Balken durchzogenen Fassade vor sich.
Sein Auge überflog alle Öffnungen. Sollte Colombe ihn nicht angstvoll an der Tür erwarten?
Als er näher kam, wurde sein Herz bedrückt. Dieses Haus, das ehemals ganz mit der ernsten, aber ruhigen und reinen Physiognomie seines Besitzers harmonierte, hatte einen finsteren und traurigen Anblick bekommen.
Die Mauern, welche man früher so sorglich jedes Jahr übertünchte, hatten lange Risse und zeigten hier und da weite Spalten. Moos bedeckte das Dach, eine Menge von Scheiben fehlte in ihren Bleirahmen, und auf der Schwelle wuchs dickes Gras zwischen den Steinen.
Der junge Seemann hob mit zitternder Hand den schweren Hammer an der Tür. Die wurmstichigen Dielen des Korridors erzitterten drinnen, aber niemand kam, keiner antwortete. Alles schien im Innern in so festem Schlummer zu liegen, wie man ihn in den Totenhallen schläft. Ein Nachbar trat an ihn heran, erkannte ihn und sagte ihm, daß die Tochter und der Schwiegersohn Pierre Brossiers nicht mehr ihr Haus auf dem Platze Saint-Jean bewohnten, sondern seit einem Jahre in der Vorstadt von Amiens.
Charles dachte nicht daran, sich zu bedanken; er dachte nur daran daß er soeben an dieser heißgeliebten Colombe so dicht vorübergegangen sei und nichts ihm zugerufen habe: »Hier ist sie!«
Gesenkten Hauptes trat er den Rückweg an.
Man zeigte ihm die neue Wohnung seines Bruders.
Das Äußere derselben war bescheiden, fast ärmlich, und Charles erriet, auf welches Unglück der Brief Colombes ihn hatte vorbereiten wollen.
Er klopfte; eine Stimme, die ihm Schauer einflößte, rief »Herein!« Aber er blieb unbeweglich wie eine Statue von Stein vor der Tür stehen.
Dieses Glück des Wiedersehens, das drei Jahre lang der durch jeden seiner Seufzer ausgedrückte höchste Wunsch gewesen war, erregte in ihm jetzt ein Gefühl, das dem Schrecken glich.
Man hörte drinnen ein Geräusch von Schritten, die über den Flur streiften, die Tür drehte sich leise in ihren Angeln, und eine Frauengestalt zeigte sich in dem Halbdunkel. Diese Frau stieß einen lauten Schrei aus und sank in Charles Arme.
Es war Colombe, ein wenig blaß, aber immer noch reizend. Sie war es, die er ebenso zärtlich wiederfand wie damals, als ihr Cousin der einzige Gegenstand ihrer Zärtlichkeit gewesen zu sein schien.
Die Gedanken der jungen Frau gingen von der Gegenwart ohne Zweifel wieder auf die Vergangenheit über, denn nachdem sie sich rücksichtslos dem Zuge überlassen hatte, der sie in Charles' Arme trieb, zog sie sich plötzlich schnell zurück und strengte sich an, sich der Umstrickung, die sie an dem Herzen ihres Freundes festhielt, zu entziehen.
Über und über errötet, ergriff sie die Hand des Seemanns, zog ihn in das Haus und blieb vor einem Manne stehen, der ausgestreckt in einem großen Lehnsessel zu schlummern schien.
Das Gesicht dieses Mannes war von so tiefen, so zahlreichen Narben gefurcht, daß sie es entstellten. Sowohl seine Haltung als diese Male deuteten auf erst neue und heftige Leiden; als er die Augenlider aufschlug, zeigte er zwei starre, glanzlose und schrecklich anzuschauende Augäpfel.
Charles vermochte in diesem Gespenste seines Bruders kaum Jean Baptiste wiederzuerkennen.
Er blickte auf Colombe; ganz niedergebeugt weinte sie wenige Schritte von ihm entfernt.
Nun zweifelte er nicht mehr; von herzbrechender Verzweiflung hingerissen, stürzte er sich in die Arme seines Jugendgefährten, bedeckte mit Küssen und Tränen die Spuren der grausamen Wunden und murmelte mit tonloser Stimme unverständliche Worte, unter denen man die Bitte um Verzeihung vernahm.
Vielleicht erschienen ihm in diesem Augenblicke die Gedanken, die seine Seele seit drei Jahren bewegten, als Verbrechen.
Als endlich alle drei ein wenig Ruhe wiedergefunden hatten, setzten sich Charles und Colombe neben Jean Baptiste, und dieser erzählte nun seine
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