Tagebücher
vorhanden?
Endlich ein Zimmer aufgenommen. Im gleichen Haus in der Bilekgasse.
10 II (1915) Erster Abend. Der Nachbar unterhält sich stundenlang mit der Wirtin. Beide sprechen leise, die Wirtin fast unhörbar, desto ärger. Das seit 2 Tagen in Gang gekommene Schreiben unterbrochen, wer weiß, für wie lange Zeit. Reine Verzweiflung. Ist es so in jeder Wohnung?
Erwartet mich eine solche lächerliche und unbedingt tötliche Not bei jeder Vermieterin, in jeder Stadt Die zwei Zimmer meines Klassenvorstandes im Kloster. Es ist aber unsinnig sofort zu verzweifeln, lieber Mittel suchen, so sehr - nein es ist meinem Charakter nicht entgegen, etwas zähes Judentum ist noch in mir, nur hilft es meistens auf der Gegenseite.
14. (Februar 1915) Die unendliche Anziehungskraft Rußlands. Besser als die Troika Dost. erfaßt es das Bild eines großen unübersehbaren Stromes mit gelblichem Wasser, das überall Wellen aber nicht allzuhohe Wellen wirft. Wüste zerzauste Heide an den Ufern, geknickte Gräser. Nichts erfaßt das, verlöscht vielmehr alles.
Saint Simonismus
15 II 15 Alles stockt. Schlechte unregelmäßige Zeiteinteilung. Die Wohnung verdirbt mir alles.
Heute wieder die Französischstunde der Haustochter angehört.
16 II 15 Finde mich nicht zurecht. Als sei mir alles entlaufen, was ich besessen habe und als würde es mir kaum genügen, wenn es zurückkäme.
22 II 15 Unfähigkeit in jeder Hinsicht und vollständig.
25. II (1915) Nach tagelangen ununterbrochenen Kopfschmerzen endlich ein wenig freier und zuversichtlicher. Wäre ich ein Fremder der mich und den Verlauf meines Lebens beobachtet, müßte ich sagen, daß alles in Nutzlosigkeit enden muß, verbraucht in unaufhörlichem Zweifel, schöpferisch nur in Selbstquälerei. Als Beteiligter aber hoffe ich.
1. III 15 Mit großer Mühe nach wochenlanger Vorbereitung und Angst gekündigt, nicht ganz mit Grund, es ist ja ruhig genug, ich habe bloß noch nicht gut gearbeitet und deshalb weder die Ruhe 232
noch die Unruhe genügend ausgeprobt. Gekündigt habe ich vielmehr aus eigener Unruhe. Ich will mich quälen, will meinen Zustand immerfort verändern, glaube zu ahnen, daß in der Veränderung meine Rettung liegt und glaube weiter, daß ich durch solche kleine Veränderungen, die andere im Halbschlaf, ich aber unter Aufregung aller Verstandeskräfte mache, mich auf die große Veränderung, die ich wahrscheinlich brauche, vorbereiten kann. Ich tausche gewiß eine in vielem schlechtere Wohnung ein. Immerhin ist heute der erste (oder zweite Tag) an dem ich, wenn ich nicht sehr starke Kopfschmerzen hätte, recht gut hätte arbeiten können. Habe eine Seite rasch hingeschrieben.
11 III 15 Wie die Zeit hingeht, schon wieder zehn Tage und ich erreiche nichts. Ich dringe nicht durch. Eine Seite gelingt hie und da, aber ich kann mich nicht halten, am nächsten Tag bin ich machtlos.
Ost- und Westjuden, ein Abend. Die Verachtung der Ostjuden für die hiesigen Juden. Die Berechtigung dieser Verachtung. Wie die Ostjuden den Grund dieser Verachtung kennen, die Westjuden aber nicht. Z. B. die grauenhafte alle Lächerlichkeit übersteigende Auffassung, mit der die Mutter ihnen beizukommen sucht. Selbst Max, das Ungenügende Schwächliche seiner Rede, Rockaufknöpfen, Rockzuknöpfen. Und hier ist doch guter und bester Wille. Dagegen ein gewisser Wiesenfeld, zugeknöpft in ein elendes Röckchen, einen Kragen, der nicht mehr schmutziger werden kann als Festkragen angezogen, schmettert Ja und Nein, Ja und Nein. Ein teuflisches unangenehmes Lächeln um den Mund, Falten im jungen Gesicht, Bewegungen der Arme, wild und verlegen. Der Beste aber der Kleine, der ganz aus Schulung besteht, mit spitzer, keiner Steigerung fähiger Stimme, die eine Hand in der Hosentasche, mit der andern gegen die Zuhörer bohrend unaufhörlich fragt und gleich das zu Beweisende beweist. Stimme eines Kanarienvogels. Füllt mit dem Filigran der Rede bis zu Qual eingebrannte labyrintartige Rinnen aus. Werfen des Kopfes. Ich wie aus Holz, ein in die Mitte des Saales geschobener Kleiderhalter. Und doch Hoffnung.
13. (März 1915) Ein Abend: Um 6 Uhr auf das Kanapee gelegt. Etwa bis 8 Uhr geschlafen.
Unfähig gewesen aufzustehn, auf einen Uhrenschlag gewartet und im Dusel alles überhört. Um 9
Uhr aufgestanden. Nicht mehr nachhause zum Nachtmahl gegangen, auch nicht zu Max, wo heute ein gemeinsamer Abend war. Gründe: die vielen Sperrsechser, Appetitlosigkeit, Angst vor der Rückkehr spät am
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