Tagebücher
Tagebücher
von
Franz Kafka
Geboren 3.7.1883 in Prag, gestorben 3.6.1924 in Kierling bei Wien. Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns. 1901-1906 studierte er Germanistik und Jura in Prag; 1906 promovierte er zum Dr. jur. Dann kurze Praktikantenzeit am Landesgericht Prag. 1908-1917 Angestellter einer Versicherungsgesellschaft, später einer Arbeiter-Unfall-Versicherung. 1917 erkrankte er an Tbc, was ihn 1922 zur Aufgabe des Berufes zwang.
Kafka fühlte sich als einsamer und unverstandener Einzelgänger, nur mit Max Brod und Franz Werfel verband ihn Freundschaft; bekannt war er auch mit Martin Buber und Johannes Urzidil. In den Sommermonaten der Jahre 1910 bis 1912 führten ihn Reisen und Kuraufenthalte nach Italien, Frankreich, Deutschland, Ungarn und in die Schweiz.
Sein Verhältnis zu Frauen war schwierig und problematisch: zweimal hat er sich 1914
verlobt und das Verlöbnis wieder gelöst; 1920-1922 quälte ihn eine unerfüllte Liebe zu Milena Jesenska, was zahlreiche erhaltene Briefe dokumentieren; seit 1923 lebte er mit Dora Dymant zusammen als freier Schriftsteller in Berlin und Wien, zuletzt im Sanatorium Kierlang bei Wien, wo er an Kehlkopftuberkulose starb. Sein literarischer Nachlass, den er testamentarisch zur Verbrennung bestimmt hatte, wurde posthum gegen seinen Willen von Max Brod veröffentlicht.
Heft 1
Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt.
"Wenn er mich immer frägt" das ä losgelöst vom Satz flog dahin wie ein Ball auf der Wiese.
Sein Ernst bringt mich um. Den Kopf im Kragen, die Haare unbeweglich um den Schädel geordnet, die Muskeln unten an den Wangen an ihrem Platz gespannt
Ist der Wald noch immer da? Der Wald war noch so ziemlich da. Kaum aber war mein Blick zehn Schritte weit, ließ ich ab wieder eingefangen vom langweiligen Gespräch.
Im dunklen Wald im durchweichten Boden fand ich mich nur durch das Weiß seines Kragens zurecht.
Ich bat im Traum die Tänzerin Eduardowa, sie möchte doch den Czardas noch einmal tanzen. Sie hatte einen breiten Streifen Schatten oder Licht mitten im Gesicht zwischen dem untern Stirnrand und der Mitte des Kinns. Gerade kam jemand mit den ekelhaften Bewegungen des unbewußten Intriganten, um ihr zu sagen, der Zug fahre gleich. Durch die Art wie sie die Meldung anhörte, wurde mir schrecklich klar, daß sie nicht mehr tanzen werde. "Ich bin ein böses schlechtes Weib nicht wahr?" sagte sie. Oh nein sagte ich das nicht und wandte mich in eine beliebige Richtung zum Gehn.
Vorher fragte ich sie über die vielen Blumen aus, die in ihrem Gürtel steckten. "Die sind von allen Fürsten Europas" sagte sie. Ich dachte nach, was das für einen Sinn habe, daß diese Blumen, die frisch in dem Gürtel steckten der Tänzerin Eduardowa von allen Fürsten Europas geschenkt worden waren.
Die Tänzerin Eduardowa, eine Liebhaberin der Musik fährt wie überall so auch in der Elektrischen in Begleitung zweier Violinisten, die sie häufig spielen läßt. Denn es besteht kein Verbot, warum in der Elektrischen nicht gespielt werden dürfte, wenn das Spiel gut, den Mitfahrenden angenehm ist und nichts kostet d. h. wenn nachher nicht eingesammelt wird. Es ist allerdings im Anfang ein wenig überraschend und ein Weilchen lang findet jeder, es sei unpassend. Aber bei voller Fahrt, starkem Luftzug und stiller Gasse klingt es hübsch.
Die Tänzerin Eduardowa ist im Freien nicht so hübsch wie auf der Bühne. Die bleiche Farbe, diese Wangenknochen, welche die Haut so spannen, daß im Gesicht kaum eine stärkere Bewegung ist, die große Nase - die sich wie aus einer Vertiefung erhebt -, mit der man keine Späße machen kann, wie die Härte der Spitze prüfen oder sie am Nasenrücken leicht fassen und hin und her ziehn wobei man sagt "jetzt aber kommst Du mit", die breite Gestalt mit hoher Taille in allzu faltigen Röcken, wem kann das gefallen - sie sieht fast einer meiner Tanten einer ältlichen Dame ähnlich, viele ältere Tanten vieler Leute sehn ähnlich aus. Für diese Nachteile aber findet sich bei der Eduardowa im Freien außer den ganz guten Füßen, eigentlich kein Ersatz, da ist wirklich nichts, was zum Schwärmen Staunen oder auch nur zur Achtung Anlaß gäbe. Und so habe ich auch die Eduardowa sehr oft mit einer Gleichgültigkeit behandelt gesehn, die selbst sonst sehr gewandte, sehr korrekte Herren nicht verbergen konnten, obwohl sie sich natürlich viele Mühe in dieser Richtung gaben einer solchen bekannten Tänzerin gegenüber, wie es
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