Tal der Traeume
ihren Angehörigen besuchen. Als sich herausstellte, dass sie schwanger war und keinen Mann vorweisen konnte, hatte sie sich so geschämt, dass sie mit einem Viehtreiber davongelaufen war.
»Dein Daddy ist gestorben. Ich habe mich nicht getraut, seinen Namen zu nennen, nicht mal seinen Weißen-Namen. Wozu auch? Er war fort.« »Wie lautete sein Weißen-Name?« Sie hätte gelächelt, war ehrlich stolz gewesen. »Er hatte nicht bloß einen Namen wie wir, er hatte zwei, wie die Weißen. Er hieß Jimmy Moon.« Yorkey hatte oft daran gedacht. Eigentlich sollte auch er nach dem Gesetz der Weißen den Namen seines Vater tragen und sich Yorkey Moon nennen. Doch sie hatte niemandem davon erzählt, man würde daher glauben, er habe sich seinen Namen nur ausgedacht. Sie hieß Netta. Den zweiten weißen Mann hatte sie als ihren Ehemann bezeichnet, doch eine Heirat hatte nie stattgefunden. Sie war sein »schwarzer Junge«, so nannte man schwarze Eingeborenenfrauen, die ihr Haar kurz trugen, sich wie Jungen kleideten, ihr Bett mit dem Mann teilten und für ihn mit dem Vieh arbeiteten, kochten und putzten. Als »Ehemann« war Alfie Dangett gar nicht mal so schlecht gewesen, vermutete Yorkey. Sie durfte immerhin ihr Kind mitbringen, das Kind, das er nach seiner Heimatstadt York benannt hatte, doch Yorkey und Netta hatten ihn immer »Boss« genannt. So lief das eben.
Als Yorkey zwölf gewesen war, war Netta beim Sturz von einem Pferd gestorben. Nie würde Yorkey die Nacht vergessen, als die Männer ihre Leiche ins Lager brachten, in eine Pferdedecke gehüllt. Er war entsetzt gewesen, auch ungläubig, hatte mit offenem Mund dagestanden, bis ihn die Erkenntnis traf und er zu schreien begann. Doch als er den Boss Alfie erblickte, der neben ihr kniete und weinte wie ein Kind, war er vor Schreck verstummt. Wer hätte geglaubt, dass ein Kerl wie Alfie einer Abo-Frau nachweinen würde? Er hatte sie nicht geschont, doch sie musste ihm tatsächlich etwas bedeutet haben. Ob sie davon gewusst hatte? Und wenn schon, die einzige Liebe ihres Lebens, Jimmy Moon, war längst dahingegangen. »Dein Vater war ein Wanderer. Ein weiser Mann. Er kam von Süden her, aus Perth. Konnte Sprachen. Manche behaupteten, er sei ein Zauberer. Er durchquerte die großen Wüsten, wo sich nicht einmal die Weißen hinwagen. Ein großer Mann, und sehr schön. Du siehst aus wie er.« Komisch, wenn Frauen solche sentimentalen Sachen sagten. Doch sie hatte nie erwähnt, wie Jimmy umgekommen war. Wohl ein Unfall, er war noch so jung gewesen. Und da er so angesehen war, hatten ihn seine weißen Freunde begraben wollen, doch die Ältesten ihres Volkes, der Waray, duldeten es nicht. Sie hatten ihn mitgenommen und nach den angemessenen Trauerriten bestattet. Eine schlimme Sache war das gewesen. Nachdem sie gestorben war, behielt ihn der Boss bei sich, ließ ihn im Küchenwagen mitfahren, Aushilfsarbeiten im Lager übernehmen, er kümmerte sich um die Pferde, flickte Leinwand… es gab viel zu tun, bis er alt genug war, um Viehhüter zu werden. In der Zwischenzeit nahm der Boss einen anderen »schwarzen Jungen« zu sich, doch sie war jähzornig und konnte kaum Englisch, suchte ständig Streit und brachte alles durcheinander. Schließlich trennte er sich von ihr. Dann begegnete er einer Weißen, die Alfie nur heiraten wollte, wenn er die Viehtreiberei an den Nagel hängte. Die Mannschaft zerbrach. Damals befanden sie sich in Queensland. Yorkey heuerte bei anderen Treibern an und kehrte schließlich ins Territorium zurück, weil seine Mum große Stücke darauf gehalten hatte. Und so übel war das Leben als Viehtreiber auch nicht.
Er griff nach seiner Wasserflasche und nahm einen Schluck. Er freute sich schon, sie mit dem sauberen Wasser aus der Schlucht zu füllen. Die Arbeit als Treiber bot einem viel Zeit zum Nachdenken. Er befand sich hier im Gebiet der Waray, der Heimat seiner Mutter, doch es war ihm erst aufgefallen, als er den Namen der Schlucht hörte. Sie hatte ihm von ihrer Zeit hier erzählt, den ersten sechzehn Jahren ihres Lebens, der einzigen Zeit, die ihr etwas zu bedeuten schien, als sei der Rest ihres Lebens nichts wert gewesen. Doch er konnte sich kaum noch an ihre Geschichten erinnern. Kinder hören nie richtig zu. Später jedoch zermarterte er sich das Hirn, um sich die Zeit zu vertreiben, suchte nach winzigen Bruchstücken des Wissens, die irgendwo in seinem Kopf steckten, verschwommen und undeutlich. Es wäre schön, eine Heimat zu haben, einen Ort, an den
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