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geantwortet?“, richtete er seine Frage an die Raubkatze, ohne ihr in die Augen blicken zu wollen.
[Dass du mein gewählter Sohn bist. Frei zu gehen, wann immer du willst – aber immer gerne gesehen an meiner Seite.]
Talon unterdrückte das Brennen in seinen Augen und ging vor der Löwin in die Knie. Er umarmte sie an der Schulter und drückte sich fest gegen ihre Flanke.
„T’cha, du bist eine alte Füchsin!“, lachte er auf und gab ihr einen leichten Kuss auf das raue Fell. Zur Antwort schmiegte sie ihren Kopf an seine Seite und genoss die Zuneigung, die er ihr nach all den Jahren immer noch entgegen brachte.
Plötzlich jedoch ruckte ihr Kopf hoch, und sie löste sich mit aller Kraft aus seiner Umarmung. Ihr Blick richtete sich weit in die Ferne. Lauernd zuckten die Barthaare, als nähmen sie eine Witterung auf. Unruhe überfiel den Körper der alten Löwin. Talon war überrascht zurückgetaumelt und sah sie verwirrt an.
„Was hast du?“, brachte er hervor.
Sie löste sich nicht aus ihrer wachsamen Starre. Ihre Augen fixierten einen Punkt jenseits des Horizontes und folgten einer Spur, als könnten sie in der Entfernung deutlich eine Bewegung ausmachen.
[Shion. Er ruft] , antwortete sie ihm.
Talon öffnete den Mund, um sie zu fragen, wer ‚Shion’ sei. Doch in diesem Augenblick schossen Wellen von Schmerzen wie eine tosende Brandung durch seinen Kopf und schlugen tief in ihm auf. Die Wellen zogen ihn jedoch mit sich, zwangen seine Augen, in die gleiche Richtung zu blicken wie die Löwin. Die Sturmböe einer grollenden Stimme brauste in ihm auf und prasselte in unverständlichen Lauten auf ihn ein.
„Nein!“, brachte er nur hervor und presste die Hände gegen den schmerzdurchfluteten Kopf. „Lass’ mich los!“, schrie er auf. „T’cha, wer –?“
Der Boden schwankte vor seinen Augen. Er schmeckte Blut auf seinen Lippen. Nur verschwommen konnte er sehen, wie sich die Löwin aus ihrer Starre löste und den kleinen Abhang durch das dürre Gras hinabstapfte.
[Shion] , erwiderte sie ihm nur. [Er will uns.]
Ruckartig setzte sich Talons Körper in Bewegung. Seine Glieder führten unkontrollierte Bewegungen aus, einer Gliederpuppe gleich, die von ungeschickter Hand geführt wird. Die Landschaft verschwamm in wilden Farben, die sich zu neuen Bildern zusammensetzte.
„Ja, ich folge“, kam es unbewusst über seine Lippen. Im nächsten Augenblick jedoch wehrte sich jede Faser in seinem Leib gegen die beherrschende Macht der lenkenden Stimme.
„Nein! Mein … – Weg. Einer, einer – von uns.“ Das Blut pochte heftig in seinen Schläfen, während er versuchte, wieder die Oberhand zu gewinnen. „Nein, keiner – – von uns!“
[KOMM] , dröhnte die Stimme in ihm auf und wischte jeden Widerstand mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit beiseite. Talon spürte, wie sich die Gedanken in ihm auflösten, verflüchtigten wie die letzten Schleier morgendlichen Nebels. Deutlich konnte er durch das fremdartige Muster vor seinem inneren Auge den Weg erkennen, der ihm angewiesen wurde.
„Shion!“, brüllte er auf und folgte der Löwin, die unbeirrt nach Süden zog.
Den folgenden Abend war Kairo erfüllt von einer Hitze, die sich schwer über die Straßen legte. Die Menschen in der ägyptischen Millionenstadt waren den kaum auszuhaltenden Mantel aus einem immerwährenden Smog längst gewohnt, in dem sich die Abgase einer nicht enden wollenden Autoschlange mit der warmen Feuchtigkeit des in seinem Flussbett träge dahin fließenden Nils verbanden.
Doch an diesem Abend waren die Straßen beinahe leer gefegt. Selbst in den Straßencafés hielt sich kaum ein Gast auf, der an einer Wasserpfeife saugend den Verkehr beobachtet hätte. Die Menschen versteckten sich in den Häusern und hofften, dass die Stromversorgung nicht versagen mochte und die Klimaanlagen ihnen eine gewisse Erholung schenkten.
Jenseits des Stadtkerns gingen die zersiedelten Vororte nahtlos ineinander über. Immer wieder zeugten Geröllhalden und brüchige Ziegelbauten von nie fertig gestellten Bauvorhaben, die hier draußen längst vergessen worden waren. In ihnen hielten sich die Bewohner Kairos auf, denen es selbst an Geld für eine einfache Lehmbehausung fehlte.
Aus dem Lautsprecher an der Fassade einer schmucklosen Moschee lösten sich die aufgezeichneten Rufe zum letzten Abendgebet. Sie zogen wie ein wehmütiges Klagen über die Häuser und verbanden sich mit den schwachen Echos entfernter Rufe, die dasselbe Gebet
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