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gewusst, ja?“, stellte er dem Wesen die Frage, die ihn seit Tagen gefangen hielt. „Du hast gewusst, dass sie mich verstoßen würden.“
[Ich habe es geahnt] bestätigte ihm Shion. [Mir ist es nicht anders ergangen, damals, vor so langer Zeit.] Der Löwe stieg von dem Podest herab und verließ den Saal durch einen breiten Ausgang. Talon folgte ihm unaufgefordert. Die Wachen blieben am anderen Ende des Raums stehen und machten keine Anzeichen, eingreifen zu wollen.
[Ich hatte dich aufgefordert, meinen Platz einzunehmen] fuhr Shion fort, während sie durch die Gänge tiefer in das Innere des Gebäudes vordrangen. [Du hast mich besiegt. Nicht nur die Löwen werden mich nun nicht mehr fürchten. Das, was ich seit Äonen bewache, droht damit, ohne Schutz zu sein.]
Talon sah ihn fragend an.
[Es gibt so vieles, das ich dir erzählen werde] erklärte ihm das schwarze Wesen. [Dieses Land ist anders als jenes, aus dem du stammst, weit im Norden], es überging Talons Überraschung. [Es ist älter, mächtiger und fremdartiger als ihr Menschen es je verstanden habt. Im Herzen dieser Erde liegt eine Macht, die alles zu verschlingen vermag. So wie sie einst mich verzehrt hat. Sie durchdringt den Boden, das Wasser und die Luft. Sie fließt in jedem Lebewesen, das dieses Land bewohnt. Und alles Leben drängt danach, die Macht über diese Kraft zu erlangen.]
Der Weg führte sie tief nach unten, über verschlungene Pfade, die an monolithischen, schweren Steinmauern vorbeiführten. Je tiefer sie kamen, desto mehr strömte das Bauwerk eine Fremdartigkeit aus, die jede Verzierung, jedes Relief erfüllte. Gleichzeitig verschwanden die groben künstlerischen Bearbeitungen. Mehr und mehr spiegelten die Steine eine fein strukturierte Kunst wieder. Edelsteine waren in das marmorartige Material eingelassen, teils mit Gold, teils mit anderen Metallen verziert.
Der Boden begann zunehmend zu vibrieren. Schwingungen erfüllten das Bauwerk, das nun von einer ungreifbaren Art von Leben erfüllt zu sein schien.
[Siehe, alleine meiner Neugier habe ich es zu verdanken, dass ich der bin, der ich bin. Ein vorwitziger junger Löwe, gekränkt durch einen verloren Kampf um die Vorherrschaft im Rudel, versuchte ich mein Glück im ungeliebten Dschungel.] Shion blickte Talon von der Seite an und spürte, dass er seine Abneigung gegen die erdrückende Vielfalt der grünen Wälder teilte.
[Damals lebten die Vorfahren der Männer hier, die mir bis heute treu dienen. Keiner von ihnen wagte es, mich aufzuhalten. Keiner von ihnen konnte verhindern, dass ich hinab stieg in die Tiefe und mich ungewollt der Macht auslieferte, die dort herrschte.]
„Dort, wohin wir nun gehen, richtig?“
[Ja] folgte die knappe Antwort. [Du musst wissen, was in diesem Mauern lebt. Du wirst meine Nachfolge antreten.]
Talon blieb stehen. Sein Instinkt drängte ihn dazu, umzukehren und den Tempel so schnell wie möglich zu verlassen.
„Du willst, dass ich so werde wie du?“, schrie er Shion an. Die Antwort erfolgte in etwas, das wie das Lachen eines Löwen klang, falls es so etwas geben sollte. Doch es war ein Lachen voller Leere und Kälte.
[Nein. Das … das ist das, was ich für meine Unvorsichtigkeit empfangen habe. Ein junger Löwe, stolz, ungebändigt, übermütig. Ich verstand nicht, was mich erwartete. Wie hätte ich auch –] Shion hielt inne . [Nein. Das schwarze Licht, das alles verzehrt, wird dich nicht beherrschen können. Vertraue mir.]
Talon lachte kehlig auf. Für ihn klangen diese Worte wie ‚Wirf dein Leben fort’. Dennoch folgte er dem schattenhaften Wesen weiter den Gang entlang, der nun in einem hellroten Licht aus sich selbst heraus leuchtete. Vor ihnen öffnete sich ein gewaltiges Tor. Seine beiden Flügel schwangen voller Leichtigkeit zur Seite und verschwanden fugenlos in den Steinen der Mauern. Shion schritt unbeeindruckt durch den Torbogen hindurch und verschwand in der schwarzen Leere, die unendlich tief dahinter lauerte. Talon zögerte. Was er tun sollte, erschien ihm wie Selbstmord.
[Komm] erfüllt die Stimme des schwarzen Löwen voller Ruhe seine Gedanken.
Er atmete tief durch und schritt vorwärts. Lautlos schloss sich das Tor hinter ihm.
Major Devereux beschlich ein ungutes Gefühl.
Er hielt sich mit beiden Händen am Geländer des wuchtigen Panzerwagens fest, der sich mit ruckartigen Bewegungen seinen Weg entlang des Oubangui-Flusses bahnte. Ein kurzes Tippen auf die Schulter seines Fahrers deutete diesem an, anzuhalten. Mit dem
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