Tanz im Mondlicht
Kapitel 1
E s war nicht recht, ein Kind lieber zu mögen als das andere. Eines wusste Margaret mit absoluter Sicherheit: Dass nichts eine Familie schneller zu entzweien vermochte als offene Bevorzugung, selbst wenn es um Bagatellen ging. Als ihre Töchter noch klein waren, hatte sie stets darauf geachtet, dass sie abwechselnd auf dem Beifahrersitz sitzen, den Einkaufswagen schieben oder das Frühstücksmüsli auswählen durften. Damit keine von beiden behaupten konnte: »Du bist Moms Liebling.«
Als sie nun im Bett lag und auf Janes Rückkehr wartete, sah sie zu, wie Sylvie die Wäsche zusammenlegte. Ihre jüngere Tochter war dreiunddreißig, unverheiratet, aufopfernd und so gewissenhaft, dass sie jedes Nachthemd zu einem formvollendeten Quadrat zusammenfaltete. Bei dem geringsten Missgriff, wenn ein Ärmel auch nur eine Spur verrutschte, wurde das Wäschestück ausgeschüttelt und die gesamte Prozedur wiederholt.
Margaret sehnte sich nach einer Tasse Tee, aber sie wollte nicht stören. Durch ihr Schweigen hoffte sie, Sylvie die gebührende Anerkennung zu zollen. Dennoch wuchs ihre Nervosität. Würde Sylvie rechtzeitig fertig werden, um ihre ältere Schwester vom Zug abzuholen? Margaret lehnte sich gegen die Kopfkissen, es fiel ihr schwer, still zu liegen. Sie zwang sich, Ruhe zu bewahren, indem sie sich die Situation wie eine Filmszene vorstellte. Auf so manchen Betrachter hätten sie wie der Inbegriff einer harmonischen Mutter-Tochter-Beziehung gewirkt: pflichtbewusste Tochter, liebevolle Mutter und helles Märzlicht, das durch die großen Fenster strömte.
»Verflixt«, murmelte Sylvie, während sie das blaue Nachthemd aus irischem Leinen zum dritten Mal ausschüttelte. »Ich kriege es nicht hin.«
»Vielleicht solltest du es aufhängen statt falten«, schlug Margaret vor. »Probiere es doch mal mit einem Bügel.«
Sylvie warf ihr einen Blick zu, den man nur als mörderisch bezeichnen konnte. Margaret zuckte zusammen. Nicht nur angesichts der Vorstellung, Sylvie könnte wirklich den Wunsch hegen, sie zum Teufel zu schicken, sondern weil sie unbeabsichtigt die Gefühle ihrer Tochter verletzt hatte.
»Ach, Liebes, vergiss es. Es war nicht so gemeint«, entschuldigte sich Margaret.
»Schon gut, Mom.«
»Du machst das prima.«
»Danke.« Sylvie schenkte ihr ein erfreutes Lächeln. Margaret hob den Kopf, um besser zu sehen. Das Lächeln war einfach umwerfend. Sylvie, eigentlich eine strahlende Schönheit, pflegte ihr Licht unter den Scheffel zu stellen – ihre beiden Töchter hatten diese Angewohnheit, als fürchteten sie, den Neid der Götter zu wecken.
Diese natürliche Schönheit wurde nur noch durch einen messerscharfen Verstand übertroffen. Sylvie hatte an der Brown University studiert, einer Elite-Universität, und ein Semester an der Sorbonne. Jane war, zum großen Stolz ihrer Mutter, zwei Jahre vor ihrer Schwester an der Brown angenommen worden, hatte aber beschlossen, auf einen Abschluss zu verzichten. Da sie einer akademischen Laufbahn wenig abgewinnen konnte, hatte sie einen handwerklichen Beruf ergriffen und eine … Bäckerei und Konditorei eröffnet. In New York City.
Während Sylvie in Twin Rivers, Rhode Island, geblieben war. Bis vor kurzem war sie als Bibliothekarin an der Twin Rivers High School beschäftigt gewesen, der Margaret als Rektorin vorgestanden hatte. Das Erziehungswesen war ein ausgezeichnetes Betätigungsfeld für eine Frau: Es sorgte für einen wachen Verstand, bot viel Freizeit während der Sommerferien und lockte nicht nur mit einem gesicherten Auskommen, sondern darüber hinaus mit einem ganzen Bündel von Sachleistungen. Frauen, die keine Ehe anstrebten – doch selbst wenn –, waren gut beraten, diese praktischen Vorteile nicht zu unterschätzen, wie beispielsweise die Krankenversicherung.
Ihre Töchter hatten beide nicht geheiratet, und obwohl Jane keinen Universitätsabschluss vorweisen konnte, war Margaret stolz auf die Unabhängigkeit ihrer Ältesten. Was diesen Punkt betraf, war sie ihnen wohl mit gutem Beispiel vorangegangen. Trotz Ehemann hatte sie ihre Töchter praktisch allein großgezogen.
Die Wanduhr tickte laut, und als die Stunde langsam verstrich, vermochte sie ihre Aufregung kaum zu zügeln. In der Regel kündigte das Vorrücken der Zeit medizinische und profane Dinge an: Zeit, ihre Medizin einzunehmen, Zeit zum Umkleiden. Doch jetzt war es Zeit, um Jane vom Zug abzuholen. Sie blickte zu Sylvie hinüber, die am anderen Ende des Raumes stand und
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