Tanz im Mondlicht
dem blauen Wollmantel kleidete sie sich immer noch so altmodisch und unauffällig wie in der Zeit der Weltwirtschaftskrise.
Sylvie kam näher und wartete auf dem Bahnsteig vor der Zugtreppe. Jane stellte ihre Reisetasche ab und entledigte sich behutsam ihrer Tortenschachtel, bevor sie beide Arme um ihre Schwester schlang. Sylvies Haare dufteten nach Orangenblüten. Ihr Gesicht war gerötet, und ihre Wangen waren nass. Genau wie Janes. Beide wischten sich verstohlen die Tränen an den Schultern der Schwester ab, dann hoben sie die Köpfe, mit trockenen Augen.
»Dein Zug hatte Verspätung«, stellte Sylvie fest und bemühte sich, es eher beiläufig als vorwurfsvoll klingen zu lassen.
»Ich weiß. Tut mir leid.«
»Hattest du eine gute Reise?«
»Ja, danke.«
»Was ist denn das für ein Aufzug?« Sylvie lächelte verhalten, während sie an Janes schwarzem Lederärmel zupfte.
»Ähm, meine Jacke?«
»Machst du auf jugendliche Rockerbraut? Oder versuchst du, die Knallharte zu mimen?« Sylvie lächelte, um ihren Worten den Stachel zu nehmen. Das entsprach einer langjährigen Tradition in der Familie Porter.
Jane erwiderte das Lächeln und verkniff sich die Antwort, die ihr auf der Zunge lag: »Und was ist mit dir? Willst du noch wie ein Landei aussehen, bis du vierzig bist?« Sie hob ihre Reisetasche und die Tortenschachtel auf; Sylvie machte keine Anstalten, ihr eines von beiden abzunehmen. »Wie geht es Mom?«, erkundigte sich Jane auf dem Weg zum Parkplatz.
Sylvies Lächeln schwand. »Nicht besonders. Bei dem Sturz hat sie sich eine Platzwunde am Bein zugezogen, ziemlich schlimm. Und da sie zuckerkrank ist, besteht immer ein erhöhtes Infektionsrisiko. Außerdem hat der Arzt, der die Wunde genäht hat, Bemerkungen über die blauen Flecken gemacht.«
»Vielleicht kommt er seiner Meldepflicht nach und verpfeift dich bei den Behörden.«
»Das ist nicht komisch, Jane!«
»Ich weiß, tut mir leid!«, erwiderte Jane schnell, aber Sylvies Wangen und Lippen wirkten verkniffen, ein Zeichen dafür, dass sie gekränkt war. »Ich weiß, dass sie bei dir in besten Händen ist.«
»Um sie pflegen zu können, habe ich meinen Beruf an den Nagel gehängt.«
Jane nickte.
Kein Kommentar,
ermahnte sie sich. »Es sollte ein Scherz sein«, sagte sie stattdessen. »Das war dumm von mir. Lass uns nicht streiten.«
»Und dabei sitzen wir noch nicht einmal im Auto. Kaum bist du zu Hause, geht es schon los.«
»Ich weiß.« Jane spürte, wie sich die Anspannung zwischen ihren Schulterblättern ausbreitete. »Es tut mir aufrichtig leid.«
Sylvie nickte. Sie öffnete die Heckklappe des Wagens, und Jane warf ihre Reisetasche hinein, behielt die Tortenschachtel jedoch in der Hand. Beide streckten den Arm aus, um die Tür zu schließen, und Jane sah ihre Hände, Seite an Seite nebeneinander: Sie hatten genau die gleiche Größe und Form. Geschwisterhände. Sie hätte Sylvie gerne noch einmal umarmt, sie nie mehr losgelassen. Da sie in der Anonymität der Großstadt lebte, vermisste sie Verwandte, die in der Nähe wohnten. Sie vermisste die Blutsbande der Familie. Aber mehr noch als alles andere vermisste sie ihre Schwester.
»Wenn du mit Mom sprichst, solltest du dir jedes Wort genau überlegen«, sagte Sylvie warnend. »Rühr nicht an die Vergangenheit oder irgendetwas in der Richtung, ja? Aufregung ist das reinste Gift für sie.«
»Ich rege sie nicht auf.«
»Gut. Weil sie das nicht verträgt.«
»Prima.«
»Ich nehme an, dass die Schachtel eine Torte enthält.« Sylvie warf einen flüchtigen Blick auf Janes Schoß.
»Richtig.«
»Hast du
vergessen
, dass sie Diabetikerin ist?«
Jane antwortete nicht. Zu ihren frühesten Erinnerungen gehörte das Bild, wie sich ihre Mutter Insulin spritzte. Sie entsann sich aber auch, dass ihre Mutter gelegentlich einen Keks, ein Stück Torte oder Kuchen aß. Nicht oft, aber manchmal. »Ich wollte ihr etwas mitbringen. Es ist das Einzige, was ich selber machen konnte …«
»Sie ist furchtbar vergesslich – sie würde nie an ihr Insulin denken, wenn ich es ihr nicht verabreichen würde. Ihre Füße sind in einem jämmerlichen Zustand. Und dazu kommen die Schwindelanfälle. Daher hat sie auch die Prellungen und blauen Flecken. Es geht bergab mit ihr, Jane …« Sylvies Stimme stockte.
»Wir werden eine Lösung finden, Syl.« Jane blickte ihrer Schwester tief in die Augen. Diese Verbindung zwischen ihnen hatte es seit jeher gegeben, und sie bedurfte keiner Worte. Worte erwiesen sich
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