Tanz im Mondlicht
Penn Station fuhren.
Sie hätten es um ein Haar geschafft. Er hätte seine Dienstmarke gezückt, sie in ihr Abteil gebracht und dem abfahrenden Zug nachgesehen. Sie hätten ihn gleich nach ihrer Ankunft in Wilmington, Delaware, aus dem Longwood Hotel angerufen. Aber sie kamen nie aus New York heraus. Sie kamen nie über die West Thirty-three Street hinaus.
Dylan bewegte sich humpelnd durch die Plantage, mit einer Trittleiter, einer drei Meter langen Säge zum Stutzen der Bäume und einer leichten Kettensäge. In seinem zweiten Leben als Farmer gab es keine Dienstmarken, keine Verbrecher, keine Gefahr, erschossen zu werden. Es gab nur verschiedene Apfelsorten und Wurzelableger, gute Anpflanztechniken, die Wahl des richtigen Standorts, das Stutzen, die Aufzucht an Spalieren und die richtige Bestäubung der Blüten. Dazu waren Honigbienen nötig.
Er hatte seine Pension und die Abfindung für seine Berufsunfähigkeit benutzt, um dieses Stück Land aus dem Nachlass seines Vaters zu kaufen. Er hatte erwartet, bei seiner Heimkehr mit offenen Armen empfangen zu werden, der verlorene Sohn, der dafür gesorgt hatte, dass die hundert Morgen große Plantage im Besitz der Familie blieb; er hatte erwartet, dass sich sein Bruder und seine Schwägerin über alle Maßen freuen würden. Obwohl ihr eigener Obstgarten – eine Schenkung des alten Mannes zu seinen Lebzeiten – an sein Anwesen grenzte, hatten sie nur selten einen Fuß auf das Nachbargrundstück gesetzt. Ihre Empfindungen hinsichtlich seines Bemühens, den Traum des Vaters über dessen Tod hinaus lebendig zu erhalten, hatten sich als problematisch erwiesen.
Sie luden ihn an den Feiertagen zu sich nach Hause ein oder zu den Orthographiewettbewerben und Theateraufführungen an der Schule ihrer Tochter – was sich wiederum als kompliziert für Dylan erwies. Chloe war in Isabels Alter. Und deshalb erinnerte ihn jede Theateraufführung, jedes Konzert und jede sportliche Veranstaltung, an der sie teilnahm, an Isabel. Zwischen Chloe und ihm bestand eine besondere Beziehung – sie gründete auf der engen Freundschaft, die sie früher mit Isabel verbunden hatte. Doch bisweilen ging es über seine Kräfte, das Mädchen auch nur anzusehen, und so zog er sich zurück, nur ein wenig. Sein Bruder und seine Schwägerin bemerkten es und blieben ihm fern.
Abermals ertönte das Pfeifen des Zuges.
Dylan lehnte sich an den Stamm des alten Baumes, um zu lauschen. Ihm war beinahe, als könnte er seine Frau und seine Tochter auf ihren Plätzen sitzen sehen, in ihre Bücher oder in ein Kartenspiel vertieft. Ob Isabel immer noch Spaß an Karten hätte? Mit elf, in dem Jahr, als sie starb, hatte sie am liebsten
Herz ist Trumpf
und
Asse raus
gespielt.
Dylan wandte sich wieder seiner Arbeit zu und hielt nach dem ersten Stützgewinde für den alten Baum Ausschau; dann stellte er seine Leiter auf, kletterte hinauf und begann mit dem Ausholzen – die Zweige wurden an einer Stelle gestutzt, damit Licht hereinfiel und auch die unteren Blätter und Früchte erreichte.
Ende März war die vorrangige Zeit zum Beschneiden der Bäume – Zeit der Knospenruhe nach dem letzten bitteren Frost und vor Beginn des neuen Wachstums, Zeit, um das abgestorbene und von Krankheiten befallene Holz und die vertrockneten Äpfel zu entfernen, Zeit, so viele Bäume wie möglich auszuholzen. Dylan arbeitete häufig von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang – manchmal sogar noch nach Einbruch der Dunkelheit, wenn Vollmond war –, um die Plantage wieder auf Vordermann zu bringen.
Die Zeit der Knospenruhe
. In der alles stillstand. Manchmal genau bis zum Frühjahr, wenn das Tauwetter einsetzte, wenn der Saft wieder zu fließen begann, doch mitunter erheblich länger.
Auf der Leiter balancierend, während er versuchte, seinem pulsierenden und sich gleichzeitig taub anfühlenden Bein keine Beachtung zu schenken, griff Dylan nach der Baumsäge. Er dachte an die Zeit zurück, als er ein kleiner Junge gewesen war und seinen Vater hierherbegleitet hatte: Möglicherweise war es sogar an diesem Baum gewesen.
»Aller guten Dinge sind drei«, pflegte sein Vater zu sagen. »Man sollte drei Jahre hintereinander jedes Jahr einmal ein Drittel der überschüssigen Äste entfernen. Der Baum hat mehr als ein Jahr gebraucht, bis er zu wuchern begann. Und der Mensch braucht mehr als ein Jahr, um den Wildwuchs zu beseitigen.« Die Lektionen waren lehrreich und wurden jeweils zwischen zwei kräftigen Zügen aus einem Krug mit
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