Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
1 . Berlin
Der Traum wollte nicht weichen. Immer wieder schob er sich zwischen Wilhelm und den anbrechenden Tag. Er kannte diesen Traum, schon häufiger war die Gestalt erschienen, und jedes Mal war er sich im Unklaren darüber gewesen, ob er sich vor ihr fürchten sollte. Eigentlich bestand kein Grund dazu, die freundlichen Augen in dem schwarzen Gesicht verhießen nichts Böses, aber da war noch irgendetwas anderes an diesem seltsamen Mann, der gekleidet war wie ein preußischer Offizier und einen Knochen durch die Nase trug. Es gelang Wilhelm, einen Entschluss zu fassen: Für heute würde er den Traum auf sich beruhen lassen – soll der Neger seines Weges gehen und machen, was er will. Er gehörte nicht in die Welt dieses Tages, der ihn mit offenen Armen erwartete.
Wilhelm schlug die Augen auf, als er ein Klopfen an seiner Zimmertür hörte und eine vertraute Stimme: »Geruhen Euer Gnaden, die Tür zu öffnen, oder muss ich sie eintreten?« Leise erhob er sich aus dem Bett und ging zur Tür. Er legte ein Ohr an das Holz und lauschte. Er hörte die entfernten Stimmen aus der Küche und aus dem Salon und wusste, was dort jetzt geschah: Man bereitete seinen Geburtstag vor. Aber er hörte auch das ungeduldige Scharren der Füße seiner Schwester, die direkt vor der Tür stand. Er zuckte zurück, als sie laut rief: »Nun, dann muss es wohl so sein!« Wilhelm wartete noch zwei Sekunden, dann drehte er den Schlüssel im Schloss und riss die Tür auf. Elisabeth stolperte ins Zimmer und tat so, als hätte sie bei dem Versuch, die Tür einzutreten, das Gleichgewicht verloren. Er breitete die Arme aus und fing sie auf.
»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte sie leicht außer Atem. »Nun kann ich dich endlich als vollwertigen Menschen akzeptieren.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Nase. »Jetzt sind wir wieder für ein paar Wochen gleich alt. Weißt du schon, was du mir zu meinem Geburtstag schenken wirst?«
»Erst mal musst du mir ja wohl etwas schenken«, sagte er, während er seine Mutter rufen hörte: »Kommt er nun endlich?« Elisabeth drückte ihm ein kleines, quadratisches Paket in die Hand.
Der Geburtstag
Als Wilhelm eine Viertelstunde später den Salon betrat, trug er die Gala-Uniform eines Husaren des 4. Kaiserlichen Reiterregiments. Draußen begann es bläulich zu dämmern, neuer Schnee, der in der Nacht gefallen war, lag auf den Ästen der Tannen vor dem großen Salonfenster, der Raum war hell erleuchtet, der Kronleuchter strahlte über dem festlich gedeckten Frühstückstisch. Es war acht Uhr. Die Beleuchtung hätte durchaus noch heller sein können, man hätte trotzdem kein Staubkörnchen entdeckt – nicht an einem Geburtstag im Haus der von Schwemers. Zumal dies kein gewöhnlicher Geburtstag war, denn es wurde auch am anderen Ende der Stadt gefeiert, von einem anderen Wilhelm: Der 27. Januar war der wichtigste Tag im Deutschen Reich, jedes Jahr aufs Neue seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren – Kaisers Geburtstag.
Die Gratulanten im Speisesalon strafften ihre Haltung. Ganz hinten standen die drei Hausmädchen, davor die Köchin und der Küchenlehrling, dann die Haushälterin, die vor wenigen Augenblicken noch einmal mit dem Staubwedel durch den Raum gegangen war. Ein kleiner Abstand, und dann: seine beiden Brüder, davor Elisabeth und Helène, seine Mutter. Und davor: Richard Freiherr von Schwemer, die Arme ausgebreitet auf seinen ältesten Sohn zugehend, so dass der maßgeschneiderte Gehrock an den Seiten einige unschöne Falten warf.
»Wilhelm!«, sagte er ergriffen und fasste seinen Sohn fest bei den Schultern. Er musste dafür die Arme nach oben strecken. »Ich bin ja nun schon seit einigen Jahren daran gewöhnt, zu dir aufzublicken, die Jugend wird ja heute riesengroß! Aber siezen muss ich dich erst seit heute: Wilhelm, du bist jetzt 21. Ich bin stolz auf dich!«
Wilhelm ließ den Versuch seines Vaters zu, ihn an seine Brust zu ziehen, obwohl klar war, dass dies erfolglos bleiben würde, da dessen würdevoller Bauch dabei unüberwindlich im Wege stand, und hob dabei den Blick über den Kopf des Vaters hinweg zu seiner Mutter. Gerade noch konnte er das amüsierte Zucken ihrer Mundwinkel wahrnehmen, bevor sie seinen Blick bemerkte, die Haltung straffte und mit ernster Mine zustimmend nickte.
Als Erster applaudierte Karl, der jüngste Bruder Wilhelms, und nachdem alle Familienmitglieder in die Hände klatschten, fiel auch das Personal mit ein. Aber Wilhelm spürte, dass etwas fehlte. Er blickte zur
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