Tanz mit mir - Roman
hatte – war ein Juwel der Vollkommenheit, das man in einer solchen Stadt wirklich nicht erwartet hätte. Angelica legte den Kopf in den Nacken, betrachtete die Dachbalken und die kunstvollen Friese an der Wand, deren Farbe an manchen Stellen verblasst und hier und da abgeblättert war, die aber immer noch prachtvoll anzusehen waren. Alles war immer noch so magisch wie in ihrer Erinnerung, sogar mehr noch, da dieser Eindruck die lange Zeit überdauert hatte. Als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte ihre Mutter, ihr Zuhause in der Sydney Street war gleich um die Ecke, oft davon erzählt, wie die Memorial Hall einem herrlichen Pilz gleich hinter Longhamptons glanzloser High Street aus dem Boden geschossen war. Obwohl es Angelica damals schwergefallen war, die Beschreibungen ihrer Mutter mit dem Beton, über den sie ging, in Einklang zu bringen, so hatte sie damals doch inständig an den früheren Glanz und die Pracht glauben wollen.
Schon lange vor der Jahrhundertwende kam man den Angaben ihrer Mutter Pauline zufolge freitagabends zum Tanzen nach Longhampton, dieser alten Marktstadt, Zentrum des gesellschaftlichen Lebens für die Bauernhöfe und Dörfchen der Umgebung. Longhampton verfügte über eine Markthalle, die auch für Tanzveranstaltungen genutzt wurde, sowie über eine eigene Musikkappelle. Als jedoch die Mehrheit der männlichen Bevölkerung Longhamptons während des Ersten Weltkrieges an die Front musste, fanden keine Bälle mehr statt. Nach Ende des schrecklichen Gemetzels hatten die Einwohner Longhamptons, die dank ihrer Mostmühlen damals recht gut situiert waren, ihr ganzes Geld zusammengetragen, um statt eines bedrückenden, düsteren Ehrenmals für die Toten eine Memorial Hall zu bauen, da die
Ehemänner und Söhne der Stadt in glücklicheren Tagen stets gern getanzt hatten. So wurde die baufällige, alte Markthalle abgerissen und an der gleichen Stelle die herrliche Memorial Hall errichtet mit ihren schmiedeeisernen Heizkörpern und ihren bunten Glasfenstern, die ein vielfarbiges Lichtermeer auf den polierten, glänzenden Boden warfen. Der Schwingboden war von Lady Eliza Cartwright gestiftet worden, für die Angelicas Großtante Martha gekocht hatte. Lady Elizas Ehemann, Sir Cedric, war ein begeisterter Anhänger des Reels gewesen, eines schottischen Volkstanzes, und hatte bei Weihnachtsfeiern sogar mit den Bediensteten getanzt. Doch er war während des Ersten Weltkrieges am ersten Tag seines Einsatzes in Ypern gefallen, und Lady Eliza, nun Witwe mit drei kleinen Töchtern, hatte über Nacht schlohweiße Haare bekommen, wie Martha immer nach ein oder zwei Sherrys traurig erzählte hatte. Lady Eliza verkaufte seine von Hand gefertigten Jagdgewehre, überreichte den Gewinn der Stiftung und setzte sich für das Freiwilligenkomitee der Witwen ein, deren Leitung sie schließlich übernahm und die sich mit vollen Terminkalendern über ihre Trauer hinwegtrösteten. Lady Cartwright war eine der Tänzerinnen, die auf dem bunten Glasbild gleich neben der Tür abgebildet war. Ihr blondes Haar wehte, während sie sich als Mutter der drei Musen mit der kleinen Clementine, Ada und Felicity um sich drehte. Auch achtzig Jahre später war sie immer noch hier und hielt die blassen Arme im Tanz fest um ihre Töchter geschlungen.
Angelica trat vor, um sich das Bild der Cartwrights anzusehen. Genau so hatte sie sie in Erinnerung gehabt, obwohl die Farben im Laufe der Zeit ein wenig verblasst waren. Angelica hatte Adas rechten Fuß als Orientierung beim Einüben der Pirouetten genutzt. Sie hatte sich darauf konzentriert, sich gedreht und dann den Fuß mit den Augen wieder gesucht, um die Balance nicht zu verlieren. Auf eine Art und Weise
hatte sie immer das Gefühl gehabt, dass Ada am Unterricht teilnahm, obwohl »das arme Mädchen« während der Grippeepidemie 1919 im St. Mary’s Hospital gestorben war, als die Fensterbilder noch als Skizze am Zeichenbrett des Zeichners hingen.
Während der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre hatten die Witwen in der neuen Memorial Hall mit ihren Töchtern tanzen müssen. Eine ganze Weile lang hatte sich der Céilidh, ein irischer Volkstanz, großer Beliebtheit erfreut. Bei diesem Tanz fiel es nicht so schwer, die Rolle des Mannes zu übernehmen, da er eher einer atemlosen körperlichen Leibesübung ähnelte als einem romantischen Tanz. Als jedoch die Söhne so groß geworden waren, dass sie mittanzen konnten, nahm man die Tradition der Ballnächte wieder auf. Es wurde
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