Taran Bd 6 - Der Findling: Geschichten aus Tarans Welt
Bahnen der Sterne, die Kreise der Planeten, die Ebbe und Flut von Zeit und Raum. Alle Geheimnisse der Welt und all ihre verborgene Weisheit wurden ihm offenbar.
Dallben drehte sich der Kopf; ihn schwindelte vor Entzücken. Das riesige Buch schien weniger zu wiegen als eine Feder, und er fühlte sich so unbeschwert, dass er von einer Bergspitze zur nächsten hätte hüpfen können, ohne je den Boden zu berühren. Er lachte und sang aus vollem Halse, berstend vor Freude, Stolz und Kraft ob dessen, was er gelernt hatte.
»Ich habe richtig gewählt!«, rief er aus und sprang auf. »Aber warum sollte Orddu mich gewarnt haben? Ein Preis? Welchen Preis kann es da geben? Wissen ist Freude!«
Er schritt weiter und las dabei. Jede Seite des Buches machte seinen Weg leichter und seinen Schritt schneller, und bald kam er an ein Dorf, wo die Menschen tanzten, sangen und ein Fest feierten. Sie boten ihm zu essen und zu trinken und einen Platz für die kommende Nacht.
Doch Dallben dankte ihnen für ihre Gastfreundschaft und schüttelte den Kopf. Er habe Speise und Trank genug in dem Buch, das er bei sich trage. Inzwischen war er viele Meilen gewandert, doch sein Geist war frisch, und seine Beine zeigten keine Müdigkeit.
So ging er seines Wegs und konnte dabei kaum sein Glück im Zaum halten, während er las, und er beschloss, nicht zu rasten, bis er zum Ende des Buches gekommen sei. Doch hatte er weniger als die Hälfte geschafft, als zu seinem Entsetzen die Seiten dunkel zu werden begannen und mit Blut und Tränen befleckt.
Denn jetzt erzählte ihm das Buch von anderen Dingen der Welt, von Grausamkeit, Leid und Tod. Er las von Gier, Hass und Krieg; von Menschen, die einander mit Feuer und Schwert bekämpften; von zertrampelter Erde, von niemals eingebrachten Ernten, von Menschenleben, die vernichtet wurden. Und das Buch erzählte, dass selbst in eben jenem Dorf, an dem er vorbeigekommen war, ein Tag kommen sollte, an dem kein Haus mehr stehen, an dem die Frauen um ihre Männer und die Kinder um ihre Eltern weinen und an dem dort, wo man ihm zu essen und zu trinken angeboten hatte, Menschen verhungern würden, weil sie keine Krume Brot mehr hatten.
Jede Seite, die er las, durchbohrte ihm das Herz. Das Buch, das er so leicht empfunden hatte, wurde nun so schwer, dass sein Schritt stockte und er unter der Last taumelte. Blind vor Tränen stürzte er zu Boden.
Die ganze Nacht lag er dort, von Verzweiflung überwältigt. Als der Morgen graute, öffnete er die Augen und fand, dass es ihn alle Kraft kostete, auch nur den Kopf zu heben. Mit schmerzenden Knochen und ausgedörrter Kehle kroch er auf Händen und Füßen, um seinen Durst an einer Wasserpfütze zu stillen. Beim Anblick seines Spiegelbilds fuhr er mit einem Aufschrei zurück.
Seine blonden Locken waren frostig weiß geworden und fielen ihm über die gebeugten Schultern. Seine Wangen, einst voller Jugendfrische, waren nun eingefallen und runzlig, halb verborgen von einem langen grauen Bart. Seine Stirn, gestern noch glatt, war zernarbt und gefurcht; seine Hände knotig und mit Flecken bedeckt; seine Augen wässrig, als ob ihre Farbe vom Weinen ausgebleicht wäre.
Dallben beugte den Kopf. »Ja, Orddu«, flüsterte er, »ich hätte auf dich hören sollen. Alles hat seinen Preis. Doch ist der Preis der Weisheit so hoch? Ich dachte, Wissen wäre Freude. Stattdessen ist es ein unerträgliches Leid.«
Das Buch lag neben ihm. Seine letzten Seiten waren noch ungelesen, und einen Augenblick lang war Dallben versucht, sie in Fetzen zu zerreißen und im Wind zu verstreuen. Dann sagte er sich:
»Ich habe es begonnen, und ich werde es beenden, was auch immer es mir bringen mag.«
Voller Furcht und Widerstreben begann er erneut zu lesen. Doch nun hob sich sein Herz. Diese Seiten erzählten nicht nur von Tod, sondern auch von Wiedergeburt: wie die Erde sich weiterdreht und dabei das zurückgibt, was ihr gegeben wurde; wie das, was verloren war, sich wiederfindet; und wie nach dem Ende der Nacht ein neuer Tag beginnt. Er erfuhr, dass das Leben der Menschen kurz und leiderfüllt ist, doch dass jedes einzelne Leben, ob das eines Königs oder eines Schweinehirten, einen kostbaren Schatz darstellt. Und am Ende lehrte ihn das Buch, dass zwar nichts gewiss, aber alles möglich ist.
»Am Ende des Wissens beginnt die Weisheit«, murmelte Dallben. »Und am Ende der Weisheit liegt nicht Trauer, sondern Hoffnung.«
Er rappelte sich auf seine abgestorbenen Beine und humpelte den Weg
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