Tarzan am Main
Einzelheiten der »neuen« Städte sinnvoll aufeinander abgestimmt hätte. Die Elemente der Stadt sind nur angesammelt und aufgehäuft, gegeneinandergeschoben und aneinandergedrückt. Schon ist der geringe Platz wieder vollgebaut und zeigt uns nichts als seine Merkwürdigkeit. Das Umhergehen in vollständig kommerzialisierten Umgebungen macht uns zu Minimalisten des Sehens, die sich schon mit kleinen Entdeckungen zufriedengeben müssen. Der Anfang dieser Entwicklung liegt in der unmittelbaren Nachkriegszeit. In der Industriestadt, in der ich in den fünfziger Jahren aufgewachsen bin, gab es viele zerstörte Häuser und Brücken und keine Beatniks, keine Rock’n Roll-Krawalle, keine Prügeleien mit der Polizei, keine Straßenschlachten wegen irgendwas, keine Jugendgangs, denen ich mich hätte anschließen können, sondern es gab – mitten zwischen den Trümmern – zwei italienische Eissalons und zwei Tanzschulen. Heute muss ich zugeben: Das hat gereicht. An dieses Angebot konnte sich das aufstrebende Ich wenden. Ich war oft in den Eissalons und besuchte die Tanzschule. Wie soll man Genügsamkeit beschreiben oder begründen? Wir sind in der Flüchtigkeit des vorübereilenden Lebens kaum fähig, genau zu denken und genau zu sprechen, von der Entdeckung unserer Wünsche zu schweigen. Mir fällt oft erst Tage später ein, was ich über den Mangel der vorigen Woche hätte sagen können. Da verlässt – wir sind jetzt wieder auf der Zeil – ein kleiner gedrungener Mann ein großes Kaufhaus. Hinter dem Mann geht eine fast ganz verhüllte Frau, offenbar ein türkisches Ehepaar. Der Mann trägt eine große Plastiktüte, die er in der Nähe des Zeil-Denkmals öffnet. Er entimmt der Tüte ein neues Sakko, das er sich erst vor wenigen Minuten gekauft hat. Er zieht sein gebrauchtes Sakko aus und übergibt es samt der Tüte und einem hölzernen Kleiderbügel seiner neben ihm wartenden Ehefrau. Der Mann geht in seinem neuen Sakko ein paar Schritte hin und her, die Ehefrau begutachtet ihn und streicht dem Mann begütigend über den Rücken. Es ist rührend und lächerlich. Den alten Sakko steckt der Mann in die Tüte, den Kleiderbügel hängt er an das Denkmal. Das monumentale Denkmal kann die Zeil nicht von ihrer rasenden Starre befreien. Kleiderbügel sind unzerstörbar, sie sind ein Teil der Kultur, vermutlich haben sie teil an der Ewigkeit. Der Türke bemerkt nicht, dass ihm beiläufig eine Verwandlung von Gegenwart in Dauer gelungen ist. Das merkwürdige Denkmal, das kaum einer begreift, ist durch den Kleiderbügel grotesk-großartig geworden. Auch jetzt schaut niemand das Denkmal an. Mit langsamen Schritten wankt das türkische Ehepaar davon.
Auf dem niedrigen Mäuerchen rings um die Hauptwache sitzt eine bunt gemischte Gruppe. Am auffälligsten sind die hoffnungslosen Fälle: abgestürzte Alkoholiker und Obdachlose, Drogenabhängige und Freaks. Sie haben zwar einen Pappbecher vor sich stehen, aber sie können nicht mehr trinken, dazu fehlt ihnen die Kraft und auch das Geschick. Ihre widerstandslose Verkommenheit hindert die Wohlmeinenden, ihre Geldbeutel zu öffnen. Genau neben den Verlorenen kichern viele Jugendliche. Mit ihren Skateboards überspringen sie zwei oder manchmal drei Treppenstufen, ohne zu stürzen. Manchmal klappt es nicht, dann rutschen sie aus und landen mit den Knien auf den Marmorplatten des Gehwegs. Aber ein Sturz ist nicht schlimm. Die Jugendlichen sind hervorragend ausgerüstet. Sie tragen wie Eishockeyspieler dicke Knieschützer und ebensolche Ellenbogenpolster. Noch etwas weiter weg stehen und liegen ein paar Halbwüchsige, die mich am meisten interessieren. Sie tragen modisch zerfetzte Jeans, ein T-Shirt, darüber eine schwarze Lederjacke, im Gesicht eine Sonnenbrille, am Hals ein Goldkettchen oder ein Lederhalsband. Ihr wichtigstes Kennzeichen: Alle, Jungen und Mädchen, haben eine offene Bierflasche in der Hand. Die Bierflasche ist das wichtigste Zeichen ihres Designs. Denn die Bierflasche gibt ihnen etwas proletarisch Außenseiterisches, ein Signal des Ausgeschlossenseins und der Deklassierung, der ästhetisch gewordenen Hoffnungslosigkeit. Sie schauen verächtlich umher und machen die eine oder andere halblaute Bemerkung über die Leute um sie herum, die üblichen Kleinbürger, die für ihre Kinder schon wieder neue Latzhosen und nette Schühchen kaufen. Ein paar der jugendlichen Trinker tragen große schwarze Sonnenbrillen und graue Kapuzenpullover, die ihrem Outfit einen Schuss lauernder
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