Tarzan am Main
Gewaltbereitschaft verpassen. Andere haben gefärbtes Haar und gepiercte Lippen und absichtlich vernachlässigte oder verschmutzte Kleidung, von der ein punkiger touch ausgeht. Man weiß oder kann sich denken, gegen wen sich die Verachtung richtet: gegen die überangepassten Eltern und die auf Anpassung drängenden Lehrherrn, sofern vorhanden. Merkwürdig ist nur die Vorstellung, warum ausgerechnet von einem proletarischen Design eine Art Widerstand ausgehen soll. Wissen die Jugendlichen nicht, dass die heutigen Proletarier die angepasstesten Menschen überhaupt sind, wissen sie nicht, dass der endlich aufgestiegene Arbeiter mit großem Stolz seinen VW in die Garage lenkt und schon an Weihnachten darüber nachdenkt, wohin die Familie im kommenden Sommer in Urlaub fahren soll? Die heutigen Wunschproletarier wirken wie stehengebliebene Ikonen aus dem 19. Jahrhundert: damals, als Marx und Engels auf den Pauperismus des einfachen Volkes aufmerksam machten, long long ago.
Mindestens einmal am Tag rutscht mir etwas aus der Hand. Ein Buch, ein Brief, eine Gabel oder die Armbanduhr. Mich beunruhigen diese kleinen Zwischenfälle nicht wirklich. Ich stelle mich eine Weile ans Fenster und denke darüber nach, ob es simulierte Ruhe gibt oder nicht. Aber mein Denken dringt nicht mit der nötigen Schärfe in die Frage ein und wird ihrer auch rasch überdrüssig. Dabei hätte ich wahrscheinlich Grund, der Sache nachzugehen. Bis vor einigen Jahren ist mir kaum je etwas auf den Boden gefallen. Entweder ich hatte etwas in der Hand oder ich hatte nichts in der Hand. Die eigentliche Beunruhigung kommt erst ein oder zwei Tage später. Ich hebe die auf den Boden gefallenen Sachen nicht wieder auf. Wenn es die Armbanduhr ist, denke ich: Ach Gott, die Uhr, habe ich sie je gebraucht? Ich sehe auf meinen kleinen satellitengesteuerten Wecker, das genügt. Und in der Stadt brauche ich meine Armbanduhr erst recht nicht, weil es dort Uhren genug gibt. Ein wenig heikel wird die Lage, wenn im Flur zum Beispiel zwei Gegenstände liegen, sagen wir: eine Socke und ein Buch. Dann wird die Frage, ob mich das stört oder nicht, schon schwieriger. Im allgemeinen gilt das Prinzip: Ich bin nicht mehr jung, ich kann auf einen Teil der allgemeinen Ordentlichkeit inzwischen verzichten. Wenn es nur wahr wäre! Es ist genau umgekehrt: Erst im Alter wird das Verlangen nach Ordnung penetrant und unangenehm, zuweilen grotesk, weil zu stark. Ein unangenehmes Beispiel belästigt mich schon viel zu lange: Eine Weile habe ich nicht bemerkt, dass ich in immer kürzer werdenden Abständen nach meiner Brieftasche greife – nur um wieder sicher zu sein, dass sie noch da ist. Die Brieftasche war nie weg, meine Angst leider auch nicht. Das weiß ich schon seit langer Zeit, eben deswegen befremden mich die neuartigen Kontrollgriffe nach diesem und jenem. Ich lache über sie, aber das Lachen ist künstlich und drückt meine Irritation nicht aus. Das Problem wird auch dadurch nicht erträglicher, wenn ich dasselbe Verhalten an anderen alten Leuten beobachte. Neulich fiel mir eine weißhaarige Oma in der U-Bahn auf. Sie drückte sich ihre Handtasche mit beiden Händen gegen den Unterleib und hatte außerdem ihren linken Arm durch die Henkel der Tasche geschoben. Gegen diese Sicherheitsmaßnahmen war jeder Handtaschenräuber machtlos. Ich bemerkte nicht, dass ich während meiner Beobachtung wieder mehrfach nach meiner Brieftasche fasste. Die Ablenkung gelang erst mit zwei jungen Männern, die mit ihren Fahrrädern in die U-Bahn kamen und ihre Räder in dem freien Raum zwischen zwei Ausgängen abstellten. Früher hätte ich das nicht einmal bemerkt! Aber neuerdings empöre ich mich – leise, im Innern – gegen die Rücksichtslosigkeit der Radfahrer. Ich weiß nicht, warum die Überempfindlichkeit auch noch verlangt, dass ich sie ausdrücke. Die Überempfindlichkeit hat einen neuen Kompagnon: die Altersreizung.
Wahrscheinlich gibt es eine öffentliche und eine private Form des Alterns. Das öffentliche Altern zeigt sich, das private ist versteckt und bleibt stumm. Das private Altern ist das leidvollere. Wenn ich zum Beispiel die Treppe zu einer U-Bahn-Station hinuntergehe, peinigt mich die Angst, dass ich demnächst die Stufen hinabstürzen werde. Ein paar Mal war ich schon nahe dran, aber ich hatte jedesmal Glück. Es braucht nicht viel, um auf die Nase zu fallen. Zum Beispiel bleibt man mit dem Absatz an der vorigen Stufe hängen, und schon ist für ein paar Sekunden das
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