Tarzan am Main
Oder lebe auch ich, wie die meisten Autoren, in einem Selbstmissverständnis, in einem privat fabrizierten Zugehörigkeitsmythos, der mir ein neues Buch schnöde abverlangt? Fragen dieser Art sind unangenehm, weil es auf den Narzissmus des Künstlers niemals eine befriedigende Antwort gibt. Hinter dem Narzissmus wartet ein sachliches Problem. Nämlich die Frage, ob ein »ordentliches«, sinnvoll abgeschlossenes Ende eines Schriftstellerlebens überhaupt möglich ist. Viele bedeutende Schriftsteller fanden zu ihrem Werk kein einvernehmliches Verhältnis. Der Begriff »Alterswerk« wird von den meisten Autoren zwiespältig bis abwehrend rezipiert. Die Lage ist paradox; es gibt wichtige Autoren, auf deren Jugendwerk wir notfalls verzichten können, auf ihr Alterswerk aber keinesfalls. Die meisten alten Schriftsteller wollen auf keinen Fall als Rentner gelten, obwohl ihnen nichts zu einem solchen fehlt, nicht die Müdigkeit, nicht die Erschöpfung, nicht die Depression, nicht die Krankheiten, nicht das Ruhebedürfnis, nicht der Überdruss am Kulturbetrieb. Inmitten dieser Bande von verneinenden Kräften erhebt der Greis sein jugendliches Haupt und verfasst ein Alterswerk. Denn es gibt keinen Autor, der zu sich selber sagt: So, nun habe ich zwölf Romane, fünf Theaterstücke, zwei Bände Lyrik und drei Bände Essays geschrieben – das reicht. Der gewöhnliche Schriftsteller kann nur gewaltsam von seinem Werk getrennt werden: durch Krankheit, Alter, Tod. Die Trennung durch Krankheit oder Tod ist nicht elegant. Der Traum ist, dass das Ende des Werks und das Ende des Lebens (wie bei Beckett) in einem natürlichen Akt zusammenfallen. Es gibt Ausnahmen, sozusagen in beide Richtungen. Robert Musil war nicht in der Lage, sein ausgreifendes Hauptwerk »Der Mann ohne Eigenschaften« mit seinen Lebenskräften sinnvoll zu verrechnen, so dass er am Ende eben dieses Hauptwerk unvollendet zurücklassen musste. Ein Gegentyp zu Musil war Wolfgang Hildesheimer. Schon in seinen ersten Texten kokettiert er mit dem baldigen Ende seines Schreibens. In seinen 1962 erschienenen »Vergeblichen Aufzeichnungen« lesen wir gleich zu Beginn: »Mir fällt nichts mehr ein. Kein Stoff mehr, keine Fabel, keine Form, noch nicht einmal die vordergründigste Metapher. Alles ist schon geschrieben oder schon geschehen, wenn nicht beides, ja, meist sogar beides. Daher ist alles alt.« In diesem ernsten Ton hat Hildesheimer oft von dem immer gerade jetz t eintretenden Ende des Schreibens gesprochen – und schuf dabei ein umfangreiches, wichtiges Werk. Man kann sagen: Hildesheimer hat das Thema des Aufhörens »bewirtschaftet«. Das ist nicht der schlechteste Ausweg. Real war nur seine Angst, dass ihn das Ende des Schreibens genauso erschrecken würde wie ein wirklicher Tod. Man kann auch sagen: Er erlitt im Alter eine Art Realitätshemmung, eine Angst, noch länger das zu tun, was er sein ganzes Lehen getan hatte. Genauso ernst war ihm deswegen das dieser Angst abgetrotzte neue Buch. In diesem gespenstischen Zwischenreich einer komödiantisch werdenden Bedrohung spielt sich das vorgestellte Ende des Schreibens vermutlich oft ab.
Das jahrelange Pendeln zwischen Schwarzwald und Frankfurt machte mich zu einem Wiedergänger des Bahnhofs. Ich kam, wenn ich freitagsabends die Stadt verließ, häufig schon eine halbe Stunde früher zum Bahnhof, weil ich das Bahnhofsleben als solches anziehend fand und gerne beobachtete. Ich konnte einzelne Personenkreise ausmachen, die zwar keine Reisenden waren, sondern den Bahnhof als Operationsgebiet benutzten; also Bettler, Drogendealer, Hehler, Taschendiebe, aus Heimen geflohene Jugendliche, junge Mädchen, die sich als Prostituierte versuchten. Einer anderen Gruppe, für die ich keinen Namen weiß, gehörten Männer in mittleren Jahren an, die ebenfalls keine Reisenden waren und sich auch nur kurz im Hauptbahnhof aufhielten. Sie sind nicht gut gekleidet, ohne schon liederlich oder verkommen auszusehen. Die meisten dieser Männer tragen prall gefüllte Plastiktüten bei sich, manchmal auch Sportlertaschen, kleine Koffer oder halbgefüllte, manchmal auch flache Rucksäcke. Die Männer haben nur ein Ziel: die Schließfächer. Deren Schlüssel haben sie schon in der Hand, sie wissen, wo sich ihr Schließfach befindet. Einige der Männer haben auch zwei Schließfächer, ein großes, das sich am Boden der Schließfachwand befindet, und ein eher kleines von der Größe eines gewöhnlichen Reisekoffers. Das große öffnen sie
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