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Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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kann. Ich denke flüchtig an diverse Kollegen, die tatsächlich an den Stränden irgendwelcher Inseln leben, deren Namen ich mir nicht merken kann. Mir fallen dann immer Catarina Valente, Freddy Quinn und Willy Hagara ein, die in den fünfziger Jahren vom Glück unter Kokospalmen gesungen haben. Schon damals hatte ich das durchdringende Gefühl, dass sie mit ihrem Strandkitsch die deutschen Nachkriegsseelen unheilbar infiziert haben. Nur in diesem Lebenskitsch kann man die eigene Nichtigkeit ertragen und an schönen Fernsehabenden sogar großartig finden. Wahrscheinlich reicht die Sehnsucht nach Ferne sogar noch tiefer. Nur in der Befangenheit des Kitschs kann man wenigstens zwischendurch den Gedanken an seinen Tod ertragen und dessen langsames Näherkommen gefasst »annehmen«. Insofern hat der Kitsch einen unverrückbaren Halt im Leben, den sogar ich gut finden muss.

An manchen Nachmittagen , besonders im Frühjahr und Sommer, verwandeln sich Teile der Innenstadt in eine Art Szenario der Verwahrlosung. Auf vielen Bänken haben sich Obdachlose ausgestreckt; sogar in kleinen Grünanlagen campieren Alkoholiker, Drogenabhängige und Dauerarbeitslose. Oft sitzen sie in Gruppen beieinander und bereden ihre Schicksale. Warum scheitern so viele Menschen – und zwar grundsätzlich, fundamental und unaufhebbar? Man muss diese Menschen nicht lange betrachten, um zu begreifen, dass ihnen nicht zu helfen ist. Im Jargon der Fürsorge werden solche Personen »Ausgesteuerte« genannt. Sie haben die Verbindung zu den Sozialämtern verloren, sie erhalten keine Unterstützung mehr, Bargeld schon gar nicht. Sie haben ein schreckliches Vergehen begangen: Sie sind aufgrund eigener Schuld in der Verkommenheit gelandet. Ihr Drang zu Betäubungsmitteln hat dazu geführt, dass man ihnen nicht mehr zutraut, für sich selber sorgen zu können. Was sie besitzen, haben sie bei sich: einen Schlafsack, eine Plastikmatte, einen gebrauchten Mantel. In früheren Jahren haben mich öffentlich Gescheiterte stark eingeschüchtert. Ich hielt es für möglich, dass ich früher oder später zu diesen Ausgeschlossenen gehören würde. Ich litt an einem selbsterfundenen Jugendstarrsinn, der mir gefährlich erschien, obwohl ich gleichzeitig auf ihn stolz war. Zu diesem Jugendstarrsinn gehörte, dass ich schon mit vierzehn Jahren wusste, dass ich Schriftsteller werden wollte und sonst nichts. Tatsächlich schrieb ich bald darauf einen Roman, der sogar gedruckt wurde, als ich 22 Jahre alt war. Danach trat die Ernüchterung ein. Ich hatte mir Schreiben als Beruf zu einfach vorgestellt. Ich hatte angenommen, wenn das erste Buch einmal da ist, würde das zweite und dritte fast von selbst folgen. Ich hatte nichts gewusst von der Bodenlosigkeit jedes nächsten Buches. Tatsächlich mussten zwölf (zwölf!) Jahre vergehen, bis ich genügend Mut und Kraft und Dreistigkeit für ein neues Buch hatte. Vermutlich deswegen fühle ich mich den Abstürzlern aller Art bis heute nah, beinahe verwandt. Ich fürchte sowieso, unser Wirtschaftssystem hat einen Grad von Geschlossenheit erreicht, der die einmal Ausgeschlossenen nicht mehr »zurück« lässt. Wer Arbeit hat, verkehrt in den geschlossenen Zirkeln derer, die ebenfalls Arbeit haben. Wie sehr die heutige Gesellschaft in geschlossene Segmente auseinandergefallen ist, kann man erleben, wenn man einen Abend in der Oper oder im Schauspielhaus verbringt. Wer in der Pause – ein Glas Prosecco für fünf Euro in der Hand – ein wenig im weiträumigen Foyer umherwandelt, kann ganz nah und doch im Dunkeln die herumhuschenden Schatten derer sehen, die in der Grünanlage unmittelbar vor dem Theater die Nacht verbringen. Hier sah ich vor mehr als 30 Jahren das fesselnde »Nachtasyl« von Maxim Gorki. Das Stück zeigt Schicksale des Lumpenproletariats im vorrevolutionären Russland. Damals war ich erstaunt, warum ein solches Stück in der Wohlstandsrepublik Deutschland gezeigt wurde. Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass sich nur wenige Jahre später ein neues, diesmal deutsches Lumpenproletariat rund um das Theater niederlassen würde. Die Männer liegen im Gras, ihre letzte Habe neben sich. Andere besitzen wenigstens eine Kunststoffmatte, die die Bodennässe zurückhält. Ich kriege Gänsehaut, wenn ich die Eingeschlossenen und die Ausgeschlossenen so nah beieinander in meiner Nähe weiß.

Soll ich noch einen neuen Roman schreiben – oder besser nicht? Gibt es ein Publikum, das auf ein neues Buch von mir wartet?

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