Tarzan am Main
sie wohl die einzige Gasse ist, die direkt aus dem Stadtgebiet an die Stadtseite des Mainufers führt. Die Gasse scheint ein Geheimtip zu sein. Ich habe, so oft ich die Gasse entlangging, keinen Menschen getroffen, der ebenfalls hier unterwegs war.
Die meisten Personen, die mich kennen, wundern sich, dass ich in Frankfurt lebe. Ich gehe nicht mehr auf dieses Erstaunen ein, weil es auf zu komplizierten und gleichzeitig banalen Voraussetzungen beruht. Eine der häufigsten dieser (falschen) Voraussetzungen besteht in dem Urteil, Frankfurt sei hässlich, abstoßend, ordinär, spießig, kurz: ungenießbar. Das Vorbild solcher Verurteilungen sind lupenrein »schöne« Städte wie etwa Zürich, Salzburg oder Straßburg. In diesen tadellosen Städten herrscht der Schein einer architektonischen Monokultur, in deren Massenkompatibilität ich nicht leben möchte. Wer Frankfurt für ungenießbar hält, hat nicht verstanden (oder: nicht hinnehmen können), dass die Dynamik des Kapitals eine Macht ausstrahlt, die selber längst ästhetische Formen angenommen hat. Diesen Schritt mögen nicht viele nachvollziehen, was ich für einen Glücksfall halte. Dieser Schritt lässt sich so beschreiben: Interessant ist, wenn man beobachten kann, wie sich unter dem Einfluss der Kapitalanhäufung die Gestalt des Urbanen fortlaufend verändert und gleichzeitig seinen inneren Kern immer mehr festigt. Dafür ein Beispiel. Die Commerzbank hat beschlossen, dass sie in Zukunft ein »moderneres« Erscheinungsbild haben möchte. Also lässt sie ihren »alten« Hauptsitz, ein neunstöckiges Haus in der Taunusanlage, demnächst abreißen, um auf demselben Grund ihr neues Domizil aufzubauen. Das heißt: Eine Bank ist über die Jahre derart kapitalstark geworden, dass ihr äußeres Bild zu diesem Reichtum plötzlich nicht mehr passt und verändert werden muss. Diese Anpassung ähnelt dem Verhalten jeden Spießers, der vom Volkswagen zu Mercedes wechselt, wenn ihm seine Brieftasche diesen Schritt erlaubt oder nahelegt. Der Neubau der Bank wird die Stadt nicht »verständlicher« machen. Die Selbstgefälligkeit des kapitalistischen Wachstums steht im Konflikt zur Erwartung der Menschen, dass etwas durch seinen Erfolg immer angenehmer und »schöner« wird. Man muss die kühle Sachlichkeit eines Max Weber oder eines Georg Simmel in Anspruch nehmen, um die Karriere des Reichtums nicht mit unangemessenen Erwartungen zu diskriminieren. Einfacher ausgedrückt: Die Dynamik des Kapitals ist nicht darauf fixiert, dass sie gefällt.
Der Dauerkonflikt zwischen Entwicklung und Anschauung ist echt, das heißt: er kann nicht beendet werden. Zum einen gefällt sich die Stadt in ihrer hausbackenen Eppelwoi-Seligkeit, zum anderen will sie als Mainhattan gelten. Man muss annehmen, dass Menschen, die derlei Verschmelzungen angemessen finden, noch nie in New York gewesen sind. Egal! Es ist immer schön, mit etwas Bedeutsamerem gleichgesetzt zu werden. Am schönsten wäre, überhaupt nicht mehr verglichen zu werden. Würde man in seiner Skurilität anerkannt sein, dann könnten auch die lebhaftesten Widersprüche angestaunt werden, und niemand wäre darüber verstimmt, wenn an Frankfurt die Welthaltigkeit und das Handwerker-Image gleichzeitig betont werden.
Ich vergesse nicht, wie es war, als ich Anfang der siebziger Jahre nach Frankfurt kam – natürlich aus beruflichen Gründen wie fast alle, die sich in Frankfurt ansiedeln. Und auf Menschen traf, die, genau wie ich selbst, allesamt Provinzler waren, die ihre Heimat verlassen hatten, um Anschluss »nach oben« zu finden. Erst später habe ich verstanden, dass sich in diesem merkwürdigen Zusammentreffen vieler, ein wenig scheuer Neubürger etwas sehr Frankfurt-Typisches ausdrückte: Die Stadt war und ist bis zur Grenze ihrer Belastbarkeit offen für Fremde und Flüchtlinge aller Art, was ihr oft angekreidet wird; freilich nicht von den Zugewanderten selbst, die die Herbergs-Atmosphäre der Stadt zu schätzen wissen. Vielsprachigkeit und Übernationalität verhindern, dass die dickflüssige lokale Eppelwoi-Welt dominant wird. Stattdessen kann man beobachten, dass auf den Holzbänken der Sachsenhäuser Kneipen inzwischen Deutsch sprechende Amerikaner, Japaner und Koreaner Platz genommen haben und austesten, ob der Eppelwoi vielleicht auch ihr Hausgetränk werden könnte. Das erfreut die Lokalpatrioten; auf den Gedanken, dass sie, die Einheimischen, inzwischen selbst die Exoten geworden sind, können sie (oder dürfen sie)
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