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Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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nicht kommen.
    Das wiederum fällt anderen, nicht zufällig ausländischen Beobachtern auf, zum Beispiel der türkischen Soziologin und Islamkritikerin Necla Kelek. Sie hat sich mit dem Integrationskonzept der Stadt beschäftigt, das am 30. September 2010 in der Stadtverordnetenversammlung verabschiedet wurde. Frau Kelek zählt Frankfurt zu den Gemeinden, die »einen besonders hohen Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund« haben. Und: »In einigen Stadtteilen Frankfurts ist absehbar, dass die autochthone deutsche Bevölkerung zukünftig in der Minderheit sein wird.« Das war neu: Inzwischen machen sich Ausländer darüber Sorgen, dass es zu viele Ausländer in der Stadt gibt. Frau Kelek hat ausgerechnet, dass »von den mehr als 670 000 Einwohnern mehr als ein Drittel, etwa 200 000, einen Migrationshintergrund haben. Bei den Vierzehn- bis Achtzehnjährigen bereits jeder Zweite«. Sie verbindet ihre Beobachtungen mit dem Vorwurf an die deutschen Verwaltungen, diese sähen das Immigrationsdefizit ausschließlich als »Bringschuld« der deutschen Behörden – und versäumten, die Ausländer selbst zu fordern. Die Deutschen, so Frau Kelek (in der FAZ), »formulieren Erwartungen an die deutsche Gesellschaft; Erwartungen an die Migranten, ein Teil Deutschlands zu werden, gibt es nicht«. Und: »Migranten sind keine Mündel, wir müssen sie fordern. Sie sind auch keine Kinder, die vor Überforderung geschützt werden müssen.«
    Die Integrationsdezernentin der Stadt, Frau Nargess Eskandari-Grünberg, fühlte sich herausgefordert und schlug (ebenfalls in der FAZ) zurück. Betrüblich sei die Tatsache, dass »es Kelek entweder an Wissen oder an gutem Willen fehle, das Gelesene auch nur einigermaßen korrekt wiederzugeben«. Die Dezernentin wies Punkt für Punkt nach, dass Kelek den Text entweder nur oberflächlich zur Kenntnis genommen oder ihn mit Absicht polemisch entstellt habe. Der mitherausgeforderte Neubürger wurde nicht schlau aus diesem Schlagabtausch. Die allermeisten Fremden sind allerdings nicht darauf angewiesen, dass ihnen jemand ihre Lage erklärt; sie strengen sich an, so schnell wie möglich den ortsansässigen Hessen zu ähneln. Übrigbleibende Verstehensdefizite werden nicht übelgenommen. Schließlich haben ein Berliner, ein Schweizer oder ein Bayer ebenfalls Probleme mit dem Abgleich der Mentalitäten, erst recht dann, wenn der hessische Dialekt die reale Amtssprache ist. Vermutlich verhalten sich die meisten Neuankömmlinge so ähnlich wie ich damals: Still und aufmerksam beobachten sie die Sitten der Einheimischen und ahmen sie unmerklich nach. Nach einiger Zeit gleichen sie tatsächlich ihren Vorbildern und werden selbst zu solchen. Darf man dieses Laissezfaire hochtrabend Ausländerpolitik nennen? Wahrscheinlich nicht. Notfalls kann man immer argumentieren: Die Probleme arbeiten selbst an ihrer Abschaffung. Die Stadt ist zuvorkommend und offen und bietet Hilfe an, zum Beispiel Sprachkurse. Aber wird ein Mann aus Ostanatolien, der schon zu Hause keine Schule besucht hat, ausgerechnet in der Fremde einen Sprachkurs belegen? Er verweigert sich und leistet stattdessen ein Integrationsprogramm Marke Eigenbau: sprachlich, handwerklich, arbeitsökonomisch, familiär, transnational. Das Programm ist in kleine Lerneinheiten zerstückelt, dauert deswegen sehr lang, führt aber dennoch zum Ziel. Am Ende darf sich der Mann für integriert halten, obwohl er dieses Wort nie gehört hat.
    Die Geschichte des sich verweigernden Türken erinnert mich an meine eigene Geschichte. Obwohl die Fälle nicht vergleichbar sind, haben sie doch viele Berührungspunkte. Der wichtigste ist: Auch ich war nicht integriert, obgleich ich formal natürlich kein Außenseiter war. Die einheimischen Verweigerer galten nicht als desintegriert, sondern als unangepasst – und wollten es auch bleiben. Unangepasstheit war in den 70er und 80er Jahren politisch gemeint und galt als Wertprädikat. Vor mehr als vierzig Jahren wollte der Verleger Hans A. Nikel aus der satirischen Zeitschrift pardon eine Publikumszeitschrift mit hoher Auflage machen. Er engagierte sechs bis acht neue Redakteure, die die Umwandlung schaffen sollten; ich war einer von ihnen. Vor der Umwandlung war pardon – neben der Zeitschrift konkret – das einzige linksradikale Organ in der Bundesrepublik, ein Blatt für Sektierer und Spötter, kurz: für unversöhnte Intellektuelle. pardon sollte zwar eine linke Zeitschrift bleiben, zugleich aber sollte es mit

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