Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tatjana

Tatjana

Titel: Tatjana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Cruz Smith
Vom Netzwerk:
ihn. Er hätte erwartet, dass sie sich wie eine Katze verflüchtigte. Obwohl sie Aufträge hatte – eine Modenschau, einen Fotobericht über die Mafia –, kam sie mehrmals am Tag vorbei, um nachzuschauen, wie es ihm ging. »Du würdest mich vermissen, wenn ich es nicht täte. Du bist ein heimlicher Romantiker«, sagte sie.
    »Ich bin ein Zyniker. Ich glaube an Autounfälle, Flugzeugabstürze, vermisste Kinder, Selbstverbrennung, Ersticken mit Kissen.«
    »Und woran glaubst du nicht?«
    »An Heilige. Durch sie sterben Menschen.«
    »Das ist doch nichts Besonderes«, sagte Viktor, als er zu Besuch kam. »Kommt mir vor, als würdest du ein Riesentheater um ein paar gequetschte Rippen machen. Was, zum Teufel, ist überhaupt mit dir los?«
    »Angestochene Lunge.« Ein paar Tage mit einem Drainageschlauch in der Brust, und die Lunge würde sich von allein wieder aufblähen.
    »Das ist ja wie ein Besuch bei der Kameliendame. Macht’s dir was aus?« Viktor hielt eine Zigarettenpackung hoch.
    Ausnahmsweise gelüstete es Arkadi nicht danach.
    »Also Selbstmord.«
    »Oder Mord«, sagte Arkadi.
    »Nein, ich hab’s im Radio gehört. Der Staatsanwalt hat entschieden, dass sich Tatjana Petrowna aus dem Fenster gestürzt hat. Angeblich hatte sie Depressionen. Natürlich hatte sie Depressionen. Wer hat die nicht? Jeder, der Augen und Ohren hat, ist deprimiert. Der ganze Planet ist deprimiert. Deswegen haben wir die Erderwärmung.«
    Solche Einsichten hätte Arkadi auch gerne gehabt. Er hängte sich an Einzelheiten auf. Was war mit den Nachbarn? Wer hatte Tatjana schreien gehört? Was hatte sie geschrien?
    Die Schmerztabletten versetzten ihn in eine dumpfe Euphorie. Schenja musste da gewesen sein, weil eine große Schachfigur aus Schokolade, umhüllt mit einer Schleife, auf dem Nachttisch stand. Arkadi hatte einen leichten Schlaf, doch Schenja war so schwer zu fassen wie ein Schneeleopard.
    Ein auf wenige Räume beschränkter Mann wird zum Meteorologen. Durch das Fenster kartografiert er Wolken, verfolgt das imposante Vorbeiziehen einer Gewitterfront, bemerkt die ersten Regentropfen. Die Schlafzimmerwand wird zur Leinwand, auf die er seine Fragen projiziert: »Was wäre wenn?« Wenn er diese Frau gerettet hätte? Oder gerettet worden wäre? Ein Mensch in dieser Situation heißt das Dröhnen und Krachen eines Gewitters willkommen. Alles, um einen Rückblick auf sein Leben zu unterbrechen: Arkadi Kirilowitsch Renko, Leitender Ermittler für schwere Straftaten, Mitglied der Jungen Pioniere und aus einer Generation der »Jeunesse dorée«. Dazu, wie das Glück es wollte, ein Experte in Selbstzerstörung. Sein Vater, ein hoher Militär, hatte sich das Hirn weggeblasen. Seine Mutter, sanfter veranlagt, hatte sich mit Steinen beschwert und ertränkt. Arkadi hatte auch damit herumgestümpert, war aber im kritischen Moment abgelenkt worden, und damit war sein Selbstmordfieber abgeklungen. Also betrachtete er sich dank all dieser Erfahrungen und Sachkenntnisse als jemanden, der Selbstmorde fair beurteilte. Er verteidigte die Ehre der Menschen, die sich das Leben genommen hatten, die Entschlossenheit, die ein Selbstmord verlangte, die Einsamkeit und den Schweiß, die Bereitschaft, es durchzuziehen und das zweite Röhrchen Schlaftabletten zu öffnen oder den Schnitt über das Handgelenk zu vertiefen. Sie hatten den Titel verdient, und er fühlte sich dadurch beleidigt, dass hier ein Mord als etwas dargestellt wurde, was es nicht war. Tatjana Petrowna hatte genauso wenig Selbstmord begangen, wie sie zum Mond geflogen wäre.
    Als die Drainage aus Arkadis Brust entfernt wurde, hatte der Arzt gesagt: »Wir werden jeden Tag einen sauberen Verband anlegen und Sie bandagieren. Das Loch wird von selbst heilen. Ihre Rippen auch, wenn Sie es zulassen. Weder ruckhaftes Drehen noch Schweres heben, Zigaretten rauchen oder plötzliche Bewegungen. Betrachten Sie sich als zerbrochene Tasse.«
    »Das tue ich sowieso.«
    Arkadi hatte Viktor gebeten, die Akten der Miliz durchzusehen und eine Liste von Tatjana Petrownas Feinden aufzustellen.
    »Du siehst übrigens beschissen aus«, sagte Viktor.
    »Vielen Dank.«
    Nach dem Austausch von Nettigkeiten setzte sich Viktor auf den Bettrand und fächerte einen Stapel Karteikarten auf.
    »Zieh eine Karte, irgendeine.«
    »Ist das ein Spiel?«, fragte Arkadi.
    »Was denn sonst? Sieben Personen mit einem hervorragenden Grund, Tatjana umzubringen.« Er drehte eine Karte um, an die das Farbfoto eines Mannes mit langem,

Weitere Kostenlose Bücher