Tatort Oslo - Unehrlich waehrt am laengsten
fühlte er sich dem Temperament und der Lautstärke ihrer Auseinandersetzung nicht gewachsen. Sie waren wie zwei Dampflokomotiven, die in vollem Tempo aufeinander zurasten. Keine wollte freiwillig bremsen. Kollision vorprogrammiert.
»Du hast kein Recht, mir so etwas vorzuwerfen!«, wehrte sich Claudia. »Ich tue alles, damit ihr hier ein schönes Leben habt und neue Freunde findet.«
»Wir wollen aber keine neuen Freunde finden, sondern unsere alten zurückhaben!«, schrie Franziska. Ein greller Blitz tauchte die Küche in gleißendes Licht.
Claudia warf Franziska einen Blick zu, der irgendwo zwischen Wut und Verzweiflung lag. Dann fuhr sie sich mit einer wilden Geste durch die Haare und fing an, zwischen Kühlschrank und Fenster hin und her zu marschieren. Auf ihren Wangen zeigten sich hektische rote Flecken. »Ich weiß«, begann sie mit mühsamer Beherrschung, »dass die Umstellung für euch nicht einfach ist. Aber so ist das mit allen neuen Dingen im Leben. Man muss sich nur genug Zeit geben, um sich darauf einzulassen. Kommt mal her, ihr beiden …« Sie streckte ihnen lächelnd ihre Hände entgegen.
Lukas trat zögernd einen Schritt vor. Franziska zog sich an die Wand zurück und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
»Wir werden uns hier ein schönes Leben aufbauen, ihr werdet sehen«, sagte ihre Mutter mit fast flehender Stimme.
»Ich hatte schon ein schönes Leben. Leider hat man es mir weggenommen!«, giftete Franziska.
»Denkt nur mal an die Schule … wie viel Stress ihr in München hattet und wie leicht ihr euch hier tut, trotz der neuen Sprache. Ich verdiene viel mehr Geld als in Deutschland und muss nicht mal von früh bis spät dafür schuften. Hier haben die Familien noch genug Zeit füreinander. Es gibt weniger Leistungsdruck und mehr Zusammenhalt unter den Menschen. Kommt es euch nicht so vor, als wären hier alle miteinander befreundet?«
»Vor allem kommt es mir so vor, als wäre hier jeden Tag Sonntag«, entgegnete Franziska. »Und Sonntage habe ich schon immer gehasst. Vorgestern, bei den Hausaufgaben, habe ich mal darauf geachtet, wie viele Autos an unserem Haus vorbeifahren. In einer halben Stunde waren es fünf Stück« – sie streckte die fünf Finger ihrer rechten Hand in die Luft –, »und wir wohnen ja quasi in der Innenstadt. Ich glaube wirklich, in Walpertskirchen ist mehr los.« In Walpertskirchen, dem verschlafensten Kaff unter der Sonne, wohnte ihre Großtante.
»Aber das ist ja gerade das Großartige!«, rief Claudia begeistert und kehrte die Handflächen nach oben wie ein Fernsehprediger. »Hier ist es so aufregend wie in einer Metropole und erholsam wie auf dem Land. Erst neulich habe ich in der Zeitung gelesen, dass die Norweger die glücklichsten Menschen der Welt sind, weil sie in beispiellosem Wohlstand und doch in Einklang mit der Natur leben.«
»Warum arbeitest du eigentlich nicht für die norwegische Tourismusbehörde?«, fragte Franziska bissig. Doch ehe ihre Mutter etwas darauf antworten konnte, sagte Lukas leise: »Wenn Papa noch leben würde, wären wir nie hierher gezogen.«
Mit einem Mal war es totenstill. Der Sturm in der Küche hatte sich gelegt, während draußen der Wind an den Fenstern rüttelte. Claudia stand da wie vom Blitz getroffen, während ihr Gesicht alle Farbe verlor. Ihre Lippen begannen zu beben. Tränen schossen ihr in die Augen. »Nein, das wären wir nicht«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Aber euer Vater hätte es bestimmt richtig gefunden, dass wir drei es hier versuchen. Er hätte gewollt, dass wir unseren Blick nach vorn richten, statt der Vergangenheit nachzutrauern. Er wird für immer in unseren Herzen bleiben, ob in München oder in Oslo.«
Lukas wurde von einer abgrundtiefen Traurigkeit überschwemmt. Sie kam in Wellen, doch immer seltener, was ihn noch trauriger machte. Seit fünf Jahren war sein Vater jetzt tot. Fünf Jahre waren vergangen, seit sein Wagen auf regennasser Landstraße ins Schleudern geraten und gegen einen Baum geprallt war. Manchmal dauerte es eine Weile, bis sich Lukas an sein Gesicht erinnern konnte. Dann sah er sich alte Fotos an. Mit der Stimme erging es ihm genauso. Wenn er sich sehr konzentrierte, konnte er sich ihren Klang vorstellen, dem warmen, weichen Timbre seines Papas lauschen und darin baden wie in einem Meer der Geborgenheit. Aber dann verschwand die Stimme wieder, und das brachte ihn schier zur Verzweiflung. Und München, dachte Lukas, war gewissermaßen die letzte
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