Tatort Oslo - Unehrlich waehrt am laengsten
Schritten schlurfte sie rückwärts, den Blick wie gebannt auf ihren Verfolger gerichtet, der eine Hand in die Hüfte stemmte und sich die andere flach über die Augen hielt, um besser sehen zu können. Sobald er aus Franziskas Blickfeld verschwunden war, drehte sie sich um und hastete so schnell, wie es ihre schmerzenden Beine zuließen, den Weg entlang. Sie hielt sich nah am Wegesrand, um sich notfalls sofort ins Dickicht schlagen zu können. Zumindest war der Untergrund hier so fest, dass sie nicht bei jedem Schritt das Gefühl hatte, im Matsch zu versinken. Weit vor sich erkannte sie eine Weggabelung. Sie eilte darauf zu, überlegte bereits, ob sie den linken oder den rechten Weg einschlagen sollte, als sie abrupt anhielt und ungläubig die Augen aufriss.
Ein mächtiger Elch war aus dem Unterholz getreten und direkt an der Weggabelung stehen geblieben. Er hatte braunes seidiges Fell und riesige Schaufeln, die zu beiden Seiten von seinem Kopf abstanden und eine imposante Krone bildeten. Franziska starrte den Elch an und der Elch starrte Franziska an. Sie blickte direkt in sein gütiges braunes Auge und hatte seltsamerweise nicht die geringste Angst.
Du musst mir den Weg verraten!, flehte sie innerlich und wusste zugleich, dass sie auf dem besten Weg ins Irrenhaus war, wenn sie im Ernst dachte, ein Elch könnte ihr weiterhelfen.
Der Elch blickte sie unverwandt an. Dann schwenkte er sein majestätisches Haupt zur Seite und trottete gemächlich wieder ins Unterholz.
Franziska schickte ihm einen stummen Dank hinterher und nahm die linke Abzweigung, denn dorthin hatte der Elch gezeigt.
Nachdem sie einige Minuten gelaufen war, wurde der Weg zusehends breiter und lichter. Plötzlich glaubte sie, in der Ferne das Knattern eines Hubschraubers zu hören, das langsam lauter wurde. Hundegebell schallte ihr entgegen.
Sie beschleunigte ihre Schritte, ihr Brustkorb weitete sich, sie spürte das Adrenalin durch ihren Körper fluten. All ihre Schmerzen waren wie weggeblasen. Sie flog förmlich um die nächste Wegbiegung, als ihr ein gellender Ruf entgegenschallte: »Franziska!«
Sie rannte auf die dunkel gekleideten Männer zu, die ihre Hunde an der Leine hielten. Eine Person löste sich aus der Gruppe und lief ihr entgegen. Dann warf sie sich Hauptkommissar Ohlsen in die Arme.
Epilog
Die Paradiesbucht badete im gelben Frühlingslicht. Franziska und Alexander schlenderten am Ufer entlang. Flimmernde Sonnenreflexe tanzten auf ihren Gesichtern. Die salzige Luft kitzelte in der Nase. Ein paar Möwen schaukelten behaglich auf den Wellen, die träge an den Strand schwappten.
Als sie den hölzernen Steg erreichten, der direkt in die glitzernde Weite des Meeres hineinführte, zogen sie die Schuhe aus und gingen mit nackten Füßen über die warmen Planken. An der vorderen Kante setzten sie sich hin und ließen die Beine baumeln.
Während Franziska ihre juckenden Handflächen rieb, auf denen der Schorf bröckelte, empfand sie fast ein wenig Mitleid mit Leif, dem ehemaligen Freund ihrer Mutter, der jetzt in Untersuchungshaft saß und auf seinen Prozess wartete. Leif hatte sich der Polizei gestellt und die Sache mit den Einbrüchen gestanden. Viel mehr konnte man ihm eigentlich nicht vorwerfen. Außerdem glaubte ihm Franziska, dass er alles getan hätte, um sie zu befreien, nachdem er von ihrem Verschwinden gehört hatte.
Sein ehemaliger Kompagnon Morten saß ebenfalls in Untersuchungshaft, nachdem er nur Minuten nach Franziskas Rettung festgenommen worden war. Doch mit ihm hatte sie nicht das geringste Mitleid. Den konnten sie ihretwegen zwanzig Jahre lang in einen dunklen Schuppen sperren und ihm jeden Tag drei Kekse zu essen geben – dann würde er mal sehen, was das für ein Gefühl war.
»Was ich dich schon lange mal fragen wollte«, sagte Alexander unvermittelt und strich sich mit dieser lässigen Bewegung, die ihr von Anfang an gefallen hatte, die Haare aus der Stirn. »Wie hast du am Ende eigentlich den richtigen Weg gefunden? Ich meine, du bist meinem Vater ja direkt in die Arme gelaufen.«
»Den hat mir ein Elch verraten«, antwortete Franziska und lächelte geheimnisvoll.
© Nadja Bucciero-Kurtulus
KNUT KRÜGERS Begeisterung für Skandinavien führte ihn schon früh nach Oslo, wo er einige Zeit lebte. Mittlerweile frönt er seiner Begeisterung für den Hohen Norden bei dem Übersetzen skandinavischer Literatur, dem hemmungslosen Verzehr norwegischer Schalentiere und seit Neuestem dem Schreiben seiner Oslo-Krimis
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