Tatort Oslo - Unehrlich waehrt am laengsten
Verbindung zu seinem Vater gewesen. Mit dem Umzug aus ihrer alten Wohnung war auch diese Verbindung gekappt worden.
Kapitel 8
Sie trafen sich vor dem Hauptbahnhof an einer der großen Tigerskulpturen, von denen es in Oslo eine ganze Reihe gab.
»Warum stehen hier eigentlich überall Tiger rum?«, wollte Lukas wissen.
»Die Norweger bezeichnen Oslo als ›Tigerstadt‹, weil es hier so wild und gefährlich ist«, erklärte Alexander. »Ich glaube, das hat mit irgendeinem Gedicht zu tun, aber genau weiß ich das auch nicht.«
Lukas schaute prüfend zu seinem Kumpel Elias hinüber, der in seiner Winnie-Puuh-Jacke alles andere als wild und gefährlich aussah. Elias war jetzt fast immer dabei, wenn sie sich trafen, und so machten sie sich zu viert auf den Weg: drei Jungen und ein Mädchen. Zweieinhalb Deutsche und anderthalb Norweger. Und wenn Oslo wirklich die Stadt der Tiger war, dann wollten sie zusammen mitten hinein in den Dschungel, auf der Suche nach Abenteuern.
»Ich hab mal gelesen, dass Tiger immer von hinten angreifen«, sagte Elias. »Die schleichen sich lautlos an, springen an dir hoch und beißen dir ruck, zuck die Nackenwirbel durch.«
Lukas warf einen beunruhigten Blick über die Schulter. »Die greifen ja wohl keine Menschen an.«
»Aber klar, vor allem in Indien. Deshalb tragen die Inder ja auch eine Maske am Hinterkopf, um die Tiger zu täuschen«, fügte Elias mit Kennermiene hinzu.
Elias’ Allgemeinbildung war wirklich erstaunlich, allerdings hatte sich Lukas schon oft gefragt, ob man ihm alles glauben durfte. Obwohl seine Schulnoten ziemlich zu wünschen übrig ließen, sprach Elias ebenso selbstsicher über das Brutverhalten der Brillenpinguine wie über historische Flugzeugmotoren oder die Kakaorezepte der Azteken. Er schien sich einfach alles zu merken, was nichts mit der Schule zu tun hatte. Erst neulich hatte er Lukas haarklein auseinandergesetzt, dass die Azteken ihre Waren nicht mit Geld, sondern mit Kakaobohnen bezahlt hatten. Im 16. Jahrhundert hätten sie für einen Truthahn 200 Kakaobohnen hinblättern müssen, wohingegen ein Fisch, der in eine Maishülse eingewickelt wurde, nur 3 Kakaobohnen wert gewesen sei.
Für so was kann der sich begeistern, dachte Lukas, aber wenn er in Mathe mit 3x9 konfrontiert wird: Fehlanzeige.
Während Alexander ihnen den Weg bahnte und immer tiefer ins Dickicht der Großstadt vordrang, wurden die Straßen zusehends schmaler und das Licht schummriger. Stirnrunzelnd nahm Franziska zur Kenntnis, dass sich der norwegische Wohlstand, der ihre Mutter offenbar so begeisterte, hinter dem Bahnhof allmählich in Luft auflöste. Wiederholt kamen sie an verrotteten Zäunen und baufälligen Häusern vorbei, die schon lange nicht mehr gestrichen worden waren. Stattdessen hatte man die Fassaden mit irgendwelchen Parolen oder privaten Botschaften beschmiert. Auf einer freien Fläche stand eine Rostlaube im kniehohen Gestrüpp und gammelte still vor sich hin. Irgendwer hatte die Reifen abmontiert und die Scheiben eingeschlagen. Dahinter erhob sich eine bröckelige Mauer, die über und über mit knallbunten Graffiti bedeckt war.
So etwas, dachte sie, war in ihrem noblen Stadtteil Frogner, in dem auch die Odins gate lag, undenkbar. Frogner erstreckte sich träge und behaglich zwischen Frognerpark und Königsschloss, während es im Süden von der Uferpromenade mit ihrem Yachthafen begrenzt wurde. Dort gab es prächtige und vor allem frisch gestrichene Villen und Stadthäuser, in denen auch die ausländischen Botschaften residierten. Dort sammelte sich kein Müll im Rinnstein. Dort sahen die Leute elegant und gepflegt und vorwiegend norwegisch aus. Hier jedoch, im heruntergekommenen Dreieck zwischen Tøyen, Grønland und Galgeberg, hatte Franziska fast den Eindruck, einen anderen Kontinent betreten zu haben, so viele verschleierte Frauen hatte sie bereits gesehen.
Für Alexander eine willkommene Gelegenheit zu beweisen, dass nicht nur Elias über eine profunde Allgemeinbildung verfügte: »Wisst ihr, warum das hier Galgeberg heißt?«
Dreifaches Kopfschütteln.
»Weil hier im Mittelalter ein Galgen stand, an dem die Verbrecher gehängt wurden.« Lukas schüttelte sich. Elias grinste und machte eine vielsagende Handbewegung.
»Aber ich wollte euch ja noch das hässlichste Gebäude der ganzen Stadt zeigen«, fuhr Alexander fort.
»Noch hässlicher als die anderen?«, fragte Franziska.
»Wart’s ab!«
Sie schlenderten die Jens Bjelkes gate entlang und bogen nach
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