Tatort Oslo - Unehrlich waehrt am laengsten
jetzt von niemand erwähnt wurde, steht zu vermuten, dass der Umzug ohne ihn stattfand.« Alexander trank einen Schluck Wasser. Ohlsen nickte zufrieden.
»Franziska ist schlank und etwa so groß wie ich, hat schulterlange dunkelbraune Haare und grüne Augen. Ihr markantes Kinn und ihr durchdringender Blick lassen auf eine Persönlichkeit mit starkem Willen schließen.« Katja warf ihrem Sohn einen halb beeindruckten, halb belustigten Blick zu. »Ihr Bruder ist einen halben Kopf kleiner«, fuhr Alexander fort, »hat kurze blonde Haare, blaue Augen und ziemlich viele Sommersprossen, vor allem um die Nase herum. Beim Sprechen stößt er ein klein wenig mit der Zunge an, aber das hört man kaum. Hat sein Hemd schief zugeknöpft und trägt verschiedenfarbige Socken, wahrscheinlich aus Schusseligkeit. Wohnhaft in der Odins gate 17, dritter Stock – das war’s.«
»Ich muss schon sagen, du wirst immer besser«, sagte Ohlsen voller Stolz. »Wenn wir doch nur so gute Täterbeschreibungen bekommen würden, dann hätten wir eine viel höhere Aufklärungsquote.«
»Ich finde, wir sollten die Ermittlungen bei einer persönlichen Gegenüberstellung fortsetzen«, sagte Katja vergnügt. »Lad sie doch mal zu uns ein, Alexander.«
»Ich hab ihnen schon gesagt, dass ich ihnen die Paradiesbucht zeige«, entgegnete er.
»Dann solltest du das möglichst bald tut«, erwiderte Ohlsen. »Ich fürchte, der Sommer wird auch in diesem Jahr irgendwann zu Ende gehen, und jetzt ist die Paradiesbucht schließlich am schönsten. Lasst uns doch gleich die ganze Familie einladen. Vielleicht könnten wir dort zusammen grillen.«
»Und wenn sie nicht gern grillen?«, wandte Katja ein.
»Lass das nur meine Sorge sein, Liebes, ich habe schon eine Idee …«, sagte Ohlsen und blickte versonnen in die Ferne. »Mir schweben da marinierte Lammkoteletts mit gebackenen Kartoffeln vor. Oder mit wildem Fenchel gefüllte Doraden … oder vielleicht beides?«
Katja gab ein nachsichtiges Seufzen von sich und fragte sich bestimmt zum hundertsten Mal, wie sie nur an diesen sport- und genusssüchtigen Kriminalkommissar geraten war.
Und während am Fredriksborgveien auf Bygdøy noch eingehend darüber diskutiert wurde, ob man eine wildfremde Familie erst zum Grillen an den Strand oder doch lieber zu sich nach Hause einladen sollte, senkte sich langsam die Dämmerung über den Oslofjord, der jetzt so still und friedlich dalag, als wollte er für heute nicht mehr gestört werden.
Kapitel 3
Es war der seltsamste Park, den Lukas je gesehen hatte, und er lag nur einen Katzensprung von der Odins gate entfernt. Lukas kam sich inmitten der über zweihundert nackten Figuren aus Granit und Bronze wie in einem unwirklichen Traum vor. Denn die Figuren waren nicht nur nackt, sondern teils zu einem eigentümlichen Wirrwarr von Armen und Beinen verschlungen, bei dessen Anblick ihm schwindelig wurde. Das hatte ihm gerade noch gefehlt; er hatte ohnehin Mühe genug, seine Gedanken zu ordnen.
In sich gekehrt schlurfte er zwischen den starren und doch so lebendig wirkenden Babys, Kindern, Erwachsenen und Greisen hindurch, die in den verschiedensten Situationen des Lebens dargestellt waren: liebend, zankend und schlagend, lachend und weinend, sich in den Arm nehmend, scheinbar in Gespräche vertieft oder artistische Verrenkungen machend.
Der Star des Parks, das hatte ihm seine Mutter erzählt, war der »Sinnataggen«. Ein kleiner Junge, dessen Skulptur auf einer Brücke stand. Er hatte ein wutverzerrtes Gesicht und stampfte mit dem Fuß auf. Sinnataggen heißt auf Deutsch Trotzkopf.
Lukas konnte ihn gut verstehen, denn eigentlich war er genauso wütend wie dieser Junge. Doch ließ er sich seine Gefühle im Gegensatz zu Franziska nicht so leicht anmerken. Ob er nun Freude, Trauer, Heiterkeit oder Wut empfand – er prüfte diese Gefühle erst mal in seinem Inneren, versuchte ihnen auf den Grund zu gehen und herauszufinden, ob sie stärker oder schwächer wurden. Erst danach entschied er, ob er diese Gefühle zeigte oder eben nicht. Aus irgendeinem Grund brauchte Lukas diese Art der Kontrolle, um im Gleichgewicht zu bleiben.
Und im Moment wollte er seine Wut lieber für sich behalten. Vor allem seiner Mutter gegenüber, weil er sie nicht enttäuschen wollte. Sie hatte sich so auf Oslo gefreut und war so glücklich hier; jedenfalls sagte sie das ständig. Und Franziska sprach ihm gegenüber immer öfter und eindringlicher davon, dass sie wieder zurück nach München wollte.
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