Tausend strahlende Sonnen
murmelte:
»Er hat Himmel und Erde der Wahrheit gemäß erschaffen. Er lässt die Nacht über den Tag und den Tag über die Nacht rollen. Er hat die Sonne und den Mond dienstbar gemacht. Jeder läuft in seiner Bahn für eine bestimmte Zeit. Er ist der Allmächtige, der Allvergebende.«
»Knie nieder!«, sagte der Talib.
»Oh, mein Herr! Vergib mir und sei mir gnädig, du, Allerbarmer.«
»Knie nieder, hamshira . Und halte den Kopf gesenkt!«
Mariam gehorchte ein letztes Mal.
Vierter Teil
48
Tarik leidet an Kopfschmerzen.
Manchmal wacht Laila mitten in der Nacht auf und sieht ihn, das Unterhemd über den Kopf gezogen, auf der Bettkante sitzen und vor- und zurückschaukeln. Es habe in Nasir Bagh angefangen, sagt er, und sei im Gefängnis schlimmer geworden. Mitunter muss er vor Schmerzen erbrechen und kann nur noch auf einem Auge sehen. Er sagt, es fühle sich an, als würde ein Messer in die Schläfe eindringen, das Gehirn zerreißen und auf der anderen Seite austreten.
»Ich bilde mir sogar ein, den Metallgeschmack wahrnehmen zu können, wenn die Schmerzen einsetzen.«
Laila legt ihm dann ein feuchtes Tuch auf die Stirn, was die Schmerzen ein wenig lindert. Auch die kleinen weißen Pillen, die Tarik von Sajids Arzt bekommen hat, tun ihre Wirkung. Aber in manchen Nächten sind die Anfälle so heftig, dass nichts mehr hilft. Dann hält er sich den Kopf und stöhnt; die Augen sind blutunterlaufen und die Nase tropft. Laila setzt sich in solchen Momenten an seine Seite, massiert ihm den Nacken und nimmt seine Hände in ihre.
Sie heirateten am Tag ihrer Ankunft in Murree. Sajid war sichtlich erleichtert, als er von ihrem Vorhaben hörte. Er hätte sich schwer damit getan, ein unverheiratetes Paar in seinem Hotel wohnen zu lassen. Sajid sieht ganz anders aus, als Laila ihn sich vorgestellt hat. Weder stehen seine Augen eng zusammen, noch hat er eine rötliche Gesichtsfärbung. Er trägt einen adrett gezwirbelten melierten Schnauzbart und langes graues Haar, das er aus der Stirn zurückkämmt. Er ist ein freundlicher Mann mit guten Manieren, gewählter Sprache und anmutigen Bewegungen.
Es war Sajid, der einen befreundeten Mullah zur nikka bestellt hatte und Tarik beiseite nahm, um ihm Geld zuzustecken. Tarik wollte es nicht annehmen, doch Sajid bestand darauf. Also ging er in die Mall und kehrte mit zwei schlichten schmalen Eheringen zurück. Sie heirateten am Abend, nachdem die Kinder zu Bett gegangen waren.
Durch den grünen Schleier, den ihnen der Mullah über die Köpfe gelegt hatte, trafen sich Lailas und Tariks Blicke im Spiegel. Es gab keine Tränen, keine strahlenden Mienen, keine geflüsterten Treueschwüre. Schweigend betrachtete Laila das gemeinsame Spiegelbild, Gesichter, auf denen die Jahre Spuren hinterlassen hatten. Tarik öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch bevor er dazu kam, wurde ihnen der Schleier weggezogen.
Im Beisein der Kinder, die im Etagenbett unter ihnen schliefen, lagen sie in dieser Nacht als Mann und Frau zusammen. Laila erinnerte sich, wie unbeschwert sie in jüngeren Jahren miteinander geplaudert hatten, wie sie einander ins Wort gefallen waren und an den Kragen gezerrt hatten, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. Wie leicht es ihnen damals gefallen war, den anderen zum Lachen zu bringen. Es hatte sich seit diesen Kindertagen so vieles zugetragen, das ausgesprochen werden wollte, doch in dieser ersten Nacht kam ihnen kaum ein Wort über die Lippen. Es war ihnen ein Segen, zusammen zu sein, die Wärme des anderen zu spüren, Stirn an Stirn zu legen und einander die Hand zu halten.
Als Laila mitten in der Nacht aufwachte, weil sie Durst hatte, sah sie die Hände immer noch fest ineinander verschränkt wie bei Kindern, die den Bindfaden eines Luftballons festhalten.
Laila genießt die kühlen, nebelverhangenen Morgenstunden in Murree, den funkelnden Sternenhimmel bei Nacht, das Grün der Kiefern, in denen Eichhörnchen turnen, und die plötzlichen Regenschauer, die die Besucher der Mall unter den Markisen der Geschäfte Zuflucht suchen lassen. Ihr gefallen die Souvenirläden, ja sogar die Touristenhotels, auch wenn sich die Einheimischen über die vielen Neubauten beklagen, die, wie sie meinen, die natürliche Schönheit des Ortes verschandeln. Laila findet es seltsam, dass sich Leute an der Errichtung von Bauwerken stören. In Kabul würde man dies feiern.
Es gefällt ihr, dass sie ein Badezimmer haben, keine Außentoilette, sondern ein richtiges Badezimmer mit
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