Tausend strahlende Sonnen
Wasserklosett, einer Dusche und einem Waschbecken mit zwei Wasserhähnen, aus denen buchstäblich im Handumdrehen kaltes und heißes Wasser kommt. Es gefällt ihr, beim Erwachen am Morgen Alyona meckern und Abida, die mürrische, aber harmlose Köchin, die in der Küche Wunder bewirkt, mit dem Geschirr klappern zu hören.
Manchmal, wenn Laila Tarik und die Kinder schlafen sieht, überkommt sie ein Gefühl tiefer Dankbarkeit, das ihr aber wie ein Kloß im Hals steckt und Tränen in die Augen treibt.
Vormittags bringen Laila und Tarik die Hotelzimmer in Ordnung. An Tariks Gürtel klimpert ein Schlüsselring; daneben hängt ein Sprühreiniger für die Fensterscheiben. Laila trägt einen Putzeimer, ein Desinfektionsmittel, eine Toilettenbürste und Holzpolitur für die Kommoden. Auch Aziza hilft; sie hält einen Mob in der einen Hand und die mit Bohnen ausgestopfte Puppe von Mariam in der anderen. Zalmai folgt den dreien, widerwillig und schmollend.
Laila saugt, macht die Betten und wischt Staub. Tarik säubert Waschbecken und Toiletten und putzt die Linoleumböden. Er füllt die Regale mit frischen Handtüchern, kleinen Shampooflaschen und Seifestücken auf, die nach Mandeln duften. Aziza hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Fenster zu putzen. Ihre Puppe ist immer dabei.
Wenige Tage nach der nikka hat Laila ihre Tochter über Tarik aufgeklärt.
Wie die beiden aufeinander eingehen, verwundert Laila immer wieder. Aziza vervollständigt seine Sätze, er die ihren. Sie reicht ihm Dinge, bevor er darum gebeten hat. Die Blicke, die sie einander über den Esstisch zuwerfen, sind so zutraulich, dass man den Eindruck haben könnte, sie seien alte Freunde, die nach langer Trennung wieder vereint sind.
Als Laila ihr sagte, wer Tarik sei, betrachtete Aziza mit nachdenklicher Miene ihre Hände.
»Ich mag ihn«, erwiderte sie nach längerem Schweigen.
»Er liebt dich.«
»Sagt er das?«
»Das braucht er gar nicht, Aziza.«
»Erzähl mir den Rest, Mami. Ich will Bescheid wissen.«
Laila ließ sich nicht lange bitten.
»Dein Vater ist ein guter Mann, der beste, der mir je begegnet ist.«
»Was, wenn er uns verlässt?«, fragte Aziza.
»Er wird uns nicht verlassen. Schau mich an, Aziza. Dein Vater wird dir niemals wehtun und immer bei uns bleiben.«
Die Erleichterung auf Azizas Gesicht ging Laila zu Herzen.
Tarik hat für Zalmai ein Schaukelpferd besorgt und einen kleinen Handwagen gebastelt. Von einem Mitgefangenen hat er gelernt, Tiere aus Papier zu falten, und so verwandelt er, um Zalmai eine Freude zu machen, zahllose Blätter in Löwen und Kängurus, in Pferde und bunte Vögel. Zalmai aber zeigt sich unbeeindruckt und weist seine Geschenke meist gelangweilt, manchmal zornig zurück.
»Du bist ein Esel!«, schreit er. »Ich will dein Zeugs nicht.«
»Zalmai!«, schreckt Laila auf.
»Ist schon gut«, sagt Tarik. »Lass ihn nur.«
»Du bist nicht mein Baba jan . Mein wirklicher Baba jan ist verreist, und wenn er zurückkommt, haut er dich. Und du wirst ihm nicht weglaufen können, denn er hat zwei Beine und du hast nur eins.«
Abends hebt Laila ihren Sohn auf den Schoß und spricht mit ihm die Babalu -Gebete. Seinen Fragen weicht sie jedes Mal aufs Neue aus und antwortet, dass sein Baba jan weggefahren sei und sie nicht wisse, wann er zurückkommt. Es ist ihr schrecklich, das Kind zu täuschen.
Laila glaubt an dieser beschämenden Lüge festhalten zu müssen. Zalmai fragt immer wieder, er fragt, wenn er von einer Schaukel springt oder von einem Mittagsschlaf erwacht. Auch später, wenn er so alt ist, dass er sich selbst die Schuhe schnüren kann und zur Schule geht, wird sie ihn belügen müssen.
Irgendwann, so hofft Laila, wird er aufhören zu fragen, wo sein Vater geblieben sei und warum er ihn im Stich gelassen habe. Er wird ihn nicht mehr in all den älteren Männern wiederzuerkennen meinen, die gebückt über die Straße schlurfen oder unter den Vordächern von Samowarhäusern Tee trinken. Irgendwann einmal wird er, wenn er an einem Fluss entlangwandert oder über ein verschneites Feld schaut, feststellen, dass ihn das Verschwinden seines Vaters nicht länger beunruhigt und der Verlust verschmerzt ist. Dann werden die Erinnerungen an ihn vielleicht etwas Angenehmes sein, das es zu bewahren und zu ehren gilt.
Laila ist glücklich hier in Murree. Doch dieses Glück fliegt ihr nicht zu, es hat seinen Preis.
Wenn er frei hat, besucht Tarik mit Laila und den Kindern die Mall mit ihren Souvenirläden und der
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