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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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im Auge.
    Mariam fragte sich, ob er ihr Scharfrichter sein würde, dieser freundlich aussehende junge Mann mit den tief liegenden hellen Augen und leicht zugespitztem Gesicht, der mit dem schwarz angelaufenen Fingernagel seines Zeigefingers an das Seitenblech klopfte.
    »Hast du Hunger, Mutter?«, fragte er.
    Mariam schüttelte den Kopf.
    »Ich hätte einen Keks. Schmeckt gut. Du kannst ihn haben, wenn du Hunger hast.«
    »Nein. Tashakor , Bruder.«
    Er zuckte mit den Achseln und lächelte. »Hast du Angst, Mutter?«
    Ihr Hals war wie zugeschnürt. Mit zitternder Stimme sagte Mariam die Wahrheit. »Ja. Große Angst.«
    »Ich habe ein Bild von meinem Vater«, erklärte er. »Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Er hat früher Fahrräder repariert, so viel weiß ich, nicht aber, wie er sich bewegt hat, wie er gelacht oder wie seine Stimme geklungen hat, wenn du verstehst, was ich meine.« Er schaute zur Seite, richtete aber gleich darauf seinen Blick wieder auf Mariam. »Meine Mutter sagte immer, er sei der tapferste Mann, den sie kenne. Wie ein Löwe, sagte sie. Aber als ihn eines Morgens die Kommunisten abholten, habe er geweint wie ein Kind. Damit will ich dir sagen, dass es ganz normal ist, Angst zu haben. Dafür braucht man sich nicht zu schämen, Mutter.«
    Zum ersten Mal an diesem Tag weinte Mariam ein wenig.
    Auf den Tribünen waren Tausende Augenpaare auf sie gerichtet. Man reckte die Hälse, um besser sehen zu können. Gebete wurden gemurmelt. Viele schnalzten mit der Zunge. Ein Raunen ging durchs Stadion, als Mariam von dem Lastwagen heruntergeholt wurde. Sie stellte sich vor, dass in der Menge alle den Kopf schüttelten, als über Lautsprecher bekannt gegeben wurde, welches Verbrechen ihr zur Last gelegt wurde. Aber sie blickte nicht auf, um zu sehen, ob dieses Kopfschütteln missbilligend oder wohlmeinend war, vorwurfsvoll oder mitfühlend. Mariam blendete die Zuschauer aus.
    Vor ein paar Stunden hatte sie noch gefürchtet, sich lächerlich zu machen als jemand, der um Gnade winselte, in Schreikrämpfe ausbrach, sich erbrach oder gar einnässte, dass sie am Ende auch noch den letzten Rest Würde verlieren und tierischen Instinkten nachgeben würde. Doch als ihr von dem Lastwagen heruntergeholfen wurde, gaben ihre Beine nicht nach. Sie rang nicht mit den Händen und musste auch nicht zur Hinrichtungsstelle geschleift werden. Als sie spürte, dass sie ins Wanken zu geraten drohte, dachte sie an Zalmai, dem sie den geliebten Vater geraubt hatte, worunter er nun zeit seines Lebens würde leiden müssen. Dann raffte sie sich wieder auf und ging mit sicherem Schritt weiter.
    Ein bewaffneter Mann kam ihr entgegen und wies ihr den Weg in Richtung der Torpfosten auf der Südseite des Spielfeldes. Mariam glaubte, die angespannte Erwartung der Menge spüren zu können. Sie blickte nicht auf. Sie schaute zu Boden, auf ihren Schatten und den des Scharfrichters, der ihr folgte.
    Mariam blickte auf ein Leben zurück, das ihr, von einigen wenigen schönen Momenten abgesehen, übel mitgespielt hatte. Doch als sie ihre letzten zwanzig Schritte setzte, wollte sie trotz allem an diesem Leben festhalten. Sie wünschte, Laila noch einmal sehen zu können, wünschte, sie lachen zu hören, mit ihr unter einem Sternenhimmel chai zu trinken und halwa -Reste zu essen. Sie bedauerte, nicht miterleben zu dürfen, wie Aziza zu einer schönen jungen Frau heranwuchs, dass es ihr nicht vergönnt sein würde, Azizas Hände mit Henna zu bemalen und zu ihrer Hochzeit noqul -Bonbons unter die Gäste zu werfen. Sie würde nie mit Azizas Kindern spielen.
    Kurz vor dem Torpfosten forderte sie der Mann auf, stehen zu bleiben. Mariam gehorchte. Durch den Sehschlitz ihrer Burka sah sie den Schatten seines Arms, mit dem er seine Kalaschnikow anhob.
    In diesen letzten Momenten wünschte sich Mariam vieles. Als sie aber die Augen schloss, wich ihr Leid dem Empfinden grenzenlosen Friedens. Sie dachte an ihren Eintritt in diese Welt als harami einer geringen Dörflerin, als ungewünschtes Ding und bedauernswerter Unfall, als Unkraut. Und doch verließ sie diese Welt als eine Frau, die liebte und geliebt wurde. Sie ging als Freundin und Begleiterin, Beschützerin und Mutter. Als eine Person von Belang. Nein, dachte Mariam, es war nicht so schlecht, auf diese Weise zu sterben. Es war das legitime Ende eines Lebens, das illegitim begonnen hatte.
    Mariams letzte Gedanken richteten sich auf einen Koranvers, den sie unter angehaltenem Atem vor sich hin

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