Tausend strahlende Sonnen
standen eine Uhr und eine gerahmte Fotografie von Jalil und drei Jungen, die einen Fisch präsentierten. In den Schuppen des Fisches glitzerte Sonnenlicht. Jalil und die Jungen lachten.
»Nun«, hob Afsoon an, »ich, das heißt, wir haben dich gerufen, weil wir dir sehr gute Nachrichten mitzuteilen haben.«
Mariam blickte auf.
Sie sah, wie die Frauen Blicke tauschten, über Jalil hinweg, der auf die Karaffe starrte. Es war Khadija, die älteste der drei, die nun die Augen auf sie richtete, und Mariam ahnte, dass auch dies im Voraus abgesprochen worden war.
»Du hast einen Bewerber«, sagte Khadija.
Mariam glaubte nicht richtig zu hören. »Einen was?«, fragte sie und bekam die Lippen kaum auseinander.
»Einen khastegar . Einen Bewerber. Sein Name ist Raschid«, fuhr Khadija fort. »Er ist der Freund eines Geschäftspartners deines Vaters, ein Paschtune. Er stammt aus Kandahar, lebt aber jetzt in Kabul, im Bezirk Deh-Mazang. Dort gehört ihm ein zweigeschossiges Haus.«
Afsoon nickte. »Und er spricht Farsi, wie wir, wie du. Du müsstest also kein Paschto lernen.«
Mariam spürte, wie sich ihr die Brust zuschnürte. Vor ihren Augen geriet alles in Bewegung, der Boden unter ihren Füßen drohte wegzukippen.
»Er ist ein Schuhmacher«, sagte jetzt Khadija. »Nicht etwa ein gewöhnlicher moochi am Straßenrand, nein, nein. Er hat sein eigenes Geschäft und ist einer der renommiertesten Schuhmacher von ganz Kabul. Bei ihm bestellen Diplomaten, die Mitglieder der Präsidentenfamilie, hoch angesehene Leute. Kein Zweifel, er wird gut für dich sorgen können.«
Mariam fixierte Jalil. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Ist das wahr? Stimmt es, was sie sagen?«
Jalil aber wich ihrem Blick aus. Er knabberte an der Unterlippe und starrte auf die Karaffe.
»Zugegeben, er ist ein wenig älter als du«, erklärte Afsoon, »dürfte aber nicht älter als … vierzig sein. Höchstens fünfundvierzig. Was meinst du, Nargis?«
»Ja. Aber wir wissen ja alle, dass schon neunjährige Mädchen mit noch viel älteren Männern verheiratet werden. So etwas kommt vor. Wie alt bist du jetzt? Fünfzehn? Na also, genau das richtige Heiratsalter für ein Mädchen.« Die beiden anderen Frauen nickten zustimmend. Es entging Mariam nicht, dass ihre beiden Halbschwestern Saideh und Naheed mit keinem Wort erwähnt wurden; sie waren beide in Mariams Alter, besuchten die Mehri-Schule in Herat und hatten die Absicht, an der Universität von Kabul zu studieren. Mit ihren fünfzehn Jahren waren sie offenbar noch nicht im richtigen Heiratsalter für Mädchen.
»Übrigens hat auch er einen großen Verlust erleiden müssen«, sagte Nargis. »Seine Frau ist vor zehn Jahren im Kindbett gestorben. Und vor drei Jahren ertrank sein Sohn in einem See.«
»Wirklich traurig. Er sucht seit mehreren Jahren eine Frau für sich, hat aber bislang keine passende gefunden.«
»Ich will nicht«, sagte Mariam mit Blick auf Jalil. »Ich will das nicht. Zwingt mich bitte nicht.« Sie schämte sich für den weinerlichen, flehentlichen Klang ihrer Stimme, konnte daran aber nichts ändern.
»Sei vernünftig, Mariam«, sagte eine der Frauen. Mariam achtete nicht mehr darauf, welche der drei mit ihr sprach. Sie war nur noch auf Jalil fixiert und wartete darauf, dass er das Wort ergriff, dass er sagte, das Ganze sei nur ein Scherz.
»Du kannst nicht den Rest deines Lebens hier verbringen.«
»Willst du denn nicht selbst eine Familie gründen?«
»Ja, eigene Kinder und ein Zuhause haben?«
»Du musst etwas machen aus deinem Leben.«
»Nun ja, es wäre dir bestimmt lieber, einen Hiesigen zu heiraten, einen Tajik, aber Raschid ist gesund und interessiert an dir. Er hat ein Haus und einen Beruf. Darauf kommt’s doch an, oder etwa nicht? Und Kabul ist eine schöne, aufregende Stadt. Eine solche Gelegenheit wird sich dir womöglich kein zweites Mal bieten.«
Mariam richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Frauen.
»Ich werde mit Mullah Faizullah zusammenleben«, sagte sie. »Er wird mich bei sich aufnehmen. Ich weiß es.«
»Das ist keine gute Idee«, sagte Khadija. »Er ist alt und …« Sie suchte nach einer treffenden Formulierung, doch Mariam hatte längst begriffen, worum es ging. Eine solche Gelegenheit wird sich dir womöglich kein zweites Mal bieten . Und Ähnliches galt für die drei Frauen. Ihnen bot sich die Gelegenheit, die Schande, die Mariams Geburt über sie gebracht hatte, ein für alle Mal zu tilgen, den skandalösen Fehltritt ihres Mannes
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